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Eule.

Lies die ganze fantastische Abenteuerserie rund um die Erkundung eines hohlen Baumes von vorn – hier geht’s zum ersten Teil! Und das ist Teil sechs, der vor diesem erschienen ist.

Zögerlich schiebt sich die Eule ein Gummibärchen in den Mund und schließt für einen Moment die Augen. „Willst du es dir nicht ein bisschen bequemer machen?“, fragt das Giraffenwesen vorsichtig, die immer noch zu einem Ball zusammengerollte Claudine mit aufmerksamen Blicken musternd. Claudine antwortet jedoch nur mit einem langgezogenen „Haaaaach“. Vorsichtig schiebt der Bär ein winziges, rotkariertes Kissen unter ihren Kopf und nimmt neben ihr Platz. Auch das Giraffenwesen macht es sich auf dem Boden bequem, die langen mintfarbenen Beine unter sich zusammengefaltet.

„Weißt du“, sagt das Giraffenwesen in bedauerndem Tonfall und wendet sich mir zu, „Claudine hat schon lange mit Anxiety zu kämpfen …“ Eine Aussage, die Claudine dazu bringt, endlich die Flügel vom Gesicht zu nehmen.

„Lee! Also, das finde ich jetzt wirklich nicht … Hui, diese Gummibärchen wirken ganz schön schnell … Was wollte ich sagen? Ach so, ja. Lee, ich möchte meine Geschichte selbst erzählen. Also. Mein lieber Riese. Meinen Namen kennst du ja schon. Hallo, ich bin Claudine.“

Mit großen gelben Augen mustert Claudine mich aufmerksam.

„Claudines Pronomen sind ‚sie/ihr‘“, flüstert Lee, das Giraffenwesen, von der Seite.

„Ja … Danke, Lee“, fügt Claudine in leicht genervtem Ton hinzu. „Nun denn. Du siehst, ich bin eine Waldeule. Viele sagen, ich wäre klug und, für mein Alter, ziemlich weise. Dabei bin ich doch erst 357“, die Eule lacht leise, als sie meinen irritierten Blick bemerkt. „Oh, 357 ist für eine Eule wie mich doch kein Alter. Ich persönlich denke ja, dass ich gar nicht sonderlich weise, sondern einfach nur sehr reflektiert bin. Das muss durch die Therapie kommen, weißt du?“

„Sowas gibt es bei euch … im Eulenreich?“, frage ich erstaunt.

„Ja, natürlich. Was denkst du denn?!“, entgegnet Claudine. „In dem Zustand, in dem sich die Welt befindet, ist es doch eher außergewöhnlich, wenn jemand nicht in Therapie ist, findest du nicht? Also, zumindest ich finde daran nichts verwerflich. Im Gegenteil, die Therapie hilft mir wirklich. Aber das sehen leider nicht alle so, dass Therapie hilfreich ist. Und schon gar nicht, dass man offen darüber sprechen sollte, wenn man in Therapie ist. Naja. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als mir das erste Mal aufgefallen ist, dass mit mir irgendwas ‚nicht stimmt‘. Also, dass ich irgendwie anders bin als andere Eulen, meine ich. Das war, als ich noch zur Eulenschule gegangen bin. Während die anderen Eulenkinder in der Pause mit ihren Freunden gesprochen und sich von Ast zu Ast gejagt haben, habe ich die ganze Zeit diese tiefsitzende Angst in mir gespürt.“

„Eine tiefsitzende Angst?“, frage ich, meine Stirn in Falten gelegt.

„Ja. Ich kann es bis heute nicht so richtig erklären“, Claudine macht eine Pause. „Aber ich will es versuchen.“ Nach einer erneuten Pause fährt sie fort: „Eine Nervosität, tief in mir drin. Eigentlich hat mich alles nervös gemacht. Die anderen Eulenkinder mit ihren dämlichen Spielen, die mir eher Angst als Spaß gemacht haben. Ich meine, es ist doch nicht wirklich ‚lustig‘, sich gegenseitig zu jagen, oder findest du das etwa lustig? Egal. Mich haben auch die Lehrer nervös gemacht. Die Art, wie sie vorne standen, uns etwas in den Kopf geprügelt und uns dann gezwungen haben, zu wiederholen, was sie gesagt haben, nur in anderen Worten. Das ist das Gegenteil von freiem Denken. Am liebsten mochte ich immer den Weg von der Schule nach Hause. Das war meine Zeit, ganz für mich. Ich habe mir immer besonders viel Zeit gelassen, um diesen Weg zurückzulegen. Manchmal habe ich mich nochmal kurz auf einen Ast gesetzt und einfach ein bisschen meinen Blick schweifen lassen, ins Grüne. Der Wald hat mich schon immer beruhigt.

Mir geholfen, mit meiner Angst klarzukommen. Das hat immer funktioniert, bis es eines Tages nicht mehr funktioniert hat. Das war der Tag, an dem ich in der Schule einen Aussetzer hatte. Zumindest haben das die anderen später gesagt. Also, dass ich einen Aussetzer hatte. Ich selbst kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nur, dass danach alle wochenlang getuschelt haben. Und danach wollten sie erst recht nicht mehr mit mir zu tun haben. Meine Eltern mussten kommen, um mit der Eulenschulendirektorin zu sprechen. Ein Schulpsychologe war dabei beim Gespräch. Er hat gesagt, dass ich das nicht packen würde mit der Schule. Dass das offensichtlich zu viel für mich wäre. Weil ich sonst nicht diesen Aussetzer gehabt hätte. Er hat gemeint, dass ich herumgeschrien, die anderen Kinder mit meinen Flügeln geschlagen und ihnen gesagt hätte, dass sie sich ihre dämlichen Spiele sonstwohin schieben können.

Ich habe angeblich auch die Lehrer angeschrien und ihnen gesagt, dass ich mit den Sachen, die wir in der Schule lernen, später im Leben nichts, absolut gar nichts, anfangen können werde. Nicht so, wie sie uns diese Sachen beibringen. Jemand steht vorne und kaut dir etwas vor und du sollst brav auswendig lernen? Nein, danke. Naja. Auf jeden Fall kann ich mich an nichts erinnern, was da angeblich passiert wäre. Wochenlang haben meine Eltern nach dem Vorfall, wie sie ihn nennen, nicht mehr mit mir gesprochen. So als wäre es meine Schuld, dass ich nun mal diese tiefsitzende Angst habe, die anscheinend zu diesem Aussetzer geführt hat. Ich sollte mich entschuldigen und sie haben gefordert, dass ich nie wieder darüber spreche. Das war kurz bevor ich tief in den Wald geflogen bin, um alleine zu leben.“

„Du bist in den Wald geflogen, ganz allein?“, frage ich.

„Ja, ganz allein. Und tief hinein. Dahin, wo sie mich niemals finden“, wiederholt Claudine. „Endlich bin ich sie los, alle, die irgendwas von mir erwarten und verlangen und wollen. Aber eine Sache habe ich mitnehmen müssen, tief in den Wald.“

„Und was war das?“, frage ich gespannt.

„Die Angst“, sagt Claudine.

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