Bitte beachte die Content Note, die für alle Inhalte auf dem Blog gilt.

Baum III.

Hier geht es zum ersten Teil der Geschichte und hier findest du Teil zwei!

Jetzt will ich es erst recht wissen. Zurück zum Ausgang finde ich in dieser stockdunklen Umgebung sowieso nicht mehr. Das kann ich vergessen. Ich drehe mich um und schaue zurück. Es ist absolut stockfinster, so dunkel, dass ich noch nicht mal mehr eine Hand vor Augen sehen kann.

„K.?“, rufe ich, in der Hoffnung, dass er mich möglicherweise hören kann, aber die Dunkelheit verschluckt den Klang meiner Stimme. Es gibt kein Echo, obwohl der Raum so groß und leer ist, dass hier doch eigentlich eins sein müsste. Das ist beunruhigend. Sehr beunruhigend sogar. Ich drehe mich wieder um und schaue nun den dunklen Gang entlang. Auch der ist finster. Allerdings nicht komplett. Denn wenn ich die Augen ganz fest zusammenkneife, erkenne ich irgendwo, ganz weit vorn, einen Lichtschein. Was ist das bloß?

Da es mir äußerst unangenehm erscheint, den kompletten Weg zurück zum Ausgang in kompletter Dunkelheit zurückzulegen, bleibt mir nur eines übrig: die Flucht nach vorne. Aber was erwartet mich da, wo dieser Lichtschein herkommt? Ich muss es herausfinden. Eine andere Wahl habe ich nicht. Zu diesem Schluss komme ich nach einigen Minuten des Grübelns und Abwägens meiner, zugegeben, nicht gerade zahlreichen Optionen.

Vorsichtig, mit kleinen, unsicheren Schritten taste ich mich an der Wand entlang nach vorne. Außer am Geruch nach Moos und Erde merkt man jetzt kaum mehr, dass man sich noch immer im Inneren eines Baumes befindet. Denn sowohl die Wand, an der ich mich entlangtaste, als auch der Boden sind ziemlich glatt. Die Wand unter meinen Fingern fühlt sich rau, aber eben an, so, als wäre sie sorgfältig verputzt worden. Ihre Farbe kann ich nicht genau erkennen, sie könnte aber hellgrau, vielleicht sogar weiß sein.

Ich laufe weiter auf den Lichtschein zu. Daran, dass er nur sehr, sehr langsam näher zu kommen scheint, erkenne ich, dass ich eine lange Strecke zu seinem Ursprung zurücklege. Ich versuche, meine Schritte zu zählen, um ein Verständnis davon zu bekommen, wie viele Meter ich zurücklege. Eins, zwei, dreihundertvierundzwanzig – mein Kopf schwirrt, und ich gebe auf. Auf jeden Fall laufe ich eine ziemlich lange Zeit auf den Lichtschein zu, so viel steht fest. Die Dimensionen des Bauminneren sind vollkommen außer Kontrolle geraten. Endlich scheint das Licht stärker zu werden. Und plötzlich erkenne ich, dass es sich ganz am Boden zu befinden scheint, so, als würde es nur den unteren Teil des Ganges erleuchten. Irritiert arbeite ich mich langsam weiter nach vorn. Je näher ich komme, desto deutlicher wird mir bewusst, dass das Licht unter einer Tür hindurchscheinen muss, aus einem beleuchteten Raum in den Gang. Normalerweise wäre der Schein so schwach, dass man ihn nicht bemerken würde. In dieser vollkommenen Dunkelheit wird aber selbst dieses sanfte Leuchten zu einer Lichtquelle, die stark genug ist, um Orientierung zu bieten.

Ich bin nun nur noch ein paar Meter vom Ursprung des Lichtscheins entfernt. Ich verlangsame meine Schritte, denn ich will vermeiden, dass wer auch immer die Lichtquelle bei sich trägt, wieder flüchtet. Langsam, ganz langsam schleiche ich vorwärts. Mein Herz schlägt laut in meiner Brust, und ich hoffe, dass nur ich es höre. Auf Zehenspitzen bahne ich mir meinen Weg.

Und endlich: Ich stehe vor einer Tür. Selbst unter den sehr schlechten Lichtverhältnissen erkenne ich, dass sie aus massivem Holz ist. In das Holz sind verschnörkelte Verzierungen eingeritzt worden. Vorsichtig fahre ich mit dem Finger über die Schnitzereien. Ich ertaste Efeuranken, Bäume, Blumen und ein paar Pilze. Jemand hat sich sehr viel Mühe gemacht, diese Tür liebevoll zu verzieren. Ich sehe auch einen runden Türknauf aus Metall – er könnte aus Messing sein. Zögerlich bleibe ich stehen. Was, wenn ich, indem ich durch sie hindurchgehe, die Büchse der Pandora öffne und ein Schrecken nach dem anderen über mich hineinbricht? Was, wenn sich die Tür hinter mir automatisch verschließt, nachdem ich durch sie hindurchgehe, und ich für immer gefangen bin in diesem Raum? Was, wenn mein schlimmster Albtraum hinter dieser Tür lauert? Ich lege ein Ohr an die Tür. Ich höre: nichts. Absolut gar nichts. Ich deute das als gutes Zeichen, denn ein Monster würde ja bestimmt sehr viel Lärm machen.

Ich ermahne mich streng selbst zur Ruhe, atme noch einmal tief durch, drehe den Türknauf und stoße mit angehaltenem Atem die Tür auf, bevor mich der Mut verlässt.

Was sich mir jetzt offenbart, ist so ziemlich das Gegenteil von allem, mit dem ich gerechnet habe. Ich starre in vier Augenpaare, die mich genauso verängstigt anstarren wie ich sie. Mit dem winzig kleinen Unterschied, dass ich bei Weitem die größte Person in diesem für seine Bewohner überdimensioniert anmutenden Raum bin. Denn die Kreaturen, die mich anschauen, sind klein. Ziemlich klein sogar.

Ich kneife die Augen zusammen und schaue ganz genau hin. Und ich erkenne: eine besonders kleine Maus. Ich glaube, ich habe noch nie so eine kleine Maus in meinem Leben gesehen – vor allem, da es sich bei dieser Maus keinesfalls um eine neugeborene, sondern um ein ausgewachsenes Tier handelt, das mich übrigens äußerst ängstlich anschaut. Irritiert schaue ich nach links.

Neben der ungewöhnlich kleinen Maus erkenne ich mit viel Anstrengung und indem ich meine Augen noch mehr zusammenkneife einen Bären. Auch er ist ungewöhnlich klein, viiiiel kleiner als alle Bären, die ich jemals gesehen habe. Er kann nicht größer als ein paar Zentimeter sein. Sein Fell ist honigbraun und etwas struppelig, so als wäre er vor nicht allzu langer Zeit noch im Wald herumgestreift. In seinen Augen sehe ich eine Mischung aus Furcht, aber auch eine unterdrückte Wut. Langsam richtet er sein Nackenfell auf. Wenn er nicht so winzig wäre, würde ich nun Angst bekommen.

Meine Aufmerksamkeit wandert nun unweigerlich zum dritten Tier im Raum, das mich durch einen Flügelschlag auf sich aufmerksam macht. Ich sehe eine wunderschöne Eule mit großen gelben Augen im Miniformat. Sie kann nicht größer als mein kleiner Finger sein. Wie ist das nur möglich? Verunsichert und gleichzeitig leidend schaut sie mich an, ganz so, als hätte sie sich schon halb mit dem Gedanken angefreundet, gleich von mir, dem Riesen, zerquetscht zu werden. Nervös flattert sie mit den Flügeln.

Ganz rechts sehe ich das vierte winzig kleine Tier im Bunde. Es ist das einzige, das ich nicht sofort zuordnen kann. Es scheint eine Art Giraffe zu sein – zumindest lassen die langen Beine und der lange Hals darauf schließen. Aber wieso ist es mintfarben? Wieso glitzert es? Warum ist seine Mähne rosa und fällt perfekt geföhnt über seine gepiercten Ohren? Wieso sind seine Hufe schwarz lackiert? Wieso trägt es einen Choker? Das Tier erwidert meinen Blick ebenfalls mit zusammengekniffenen Augen. So als müsste es sich ebenfalls anstrengen, mich zu erkennen. Imitiert es mich? Eine Antwort auf diese Frage bekomme ich nicht. Zumindest jetzt noch nicht. Jedenfalls blickt das Wesen mich genauso irritiert an wie ich es anblicke. Ich habe Fragen.

Dieser beitrag Gefällt dir?

Dann unterstütze Gedankenflux!

From my little alien heart directly to you: Unterstütze diesen Blog, wenn du in Zukunft noch mehr Beiträge wie diesen lesen willst – mit einer Ko-fi-Spende! Ich freue mich über jeden Betrag sehr, auch über wenige Euro. Vielen Dank 👽

weitere Gedanken