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Baum II.

Hier geht es zum ersten Teil der Geschichte: „Baum“ lesen

„Hallo?“, rufe ich, meine Stimme leiser und zittriger, als ich mir das wünschen würde.

Keine Antwort. Möglicherweise habe ich mir das Geräusch nur eingebildet. Das kann gut sein, denn manchmal spielt mir mein Gehirn Streiche. Ich habe trotzdem Angst, hier in diesem Bauminneren, das viel größer ist, als ich dachte, weil ich nicht weiß, was mich erwartet. Und der Baum scheint auch kein normaler zu sein. Wenn ich nämlich genau hinschaue und mit den Füßen scharre, merke ich, dass der Boden gar nicht wurzelig, moosig, erdig und uneben ist wie man das bei einem Baum erwarten würde. Er ist aus Holz – ein sorgsam geschliffenes Parkett. Und der Boden ist glatt, spiegelglatt, könnte man sagen, so als hätte ihn jemand in sorgsamer Handarbeit poliert. Auch wenn ich fast nichts sehen kann, erkenne ich meine eigenen Umrisse in der Reflektion des spiegelblanken Holzbodens. Auch das Licht ist noch da und scheint sanft. Das Leuchten scheint von einem Punkt irgendwo vor mir zu kommen. Und wenn ich ganz genau hinschaue, zittert der Lichtpunkt ein wenig.

Ich nehme all meinen Mut zusammen und mache einen Schritt auf das Leuchten zu. Das reagiert sofort und hüpft weiter von mir weg. „Hey!“, rufe ich, dieses Mal etwas gefasster, und wenn ich ehrlich bin, langsam auch ein wenig ärgerlich. Ich habe keine Zeit für Versteckspiele, und schließlich wartet draußen K., der sich bestimmt schon wundert, wo ich so lange bleibe. Der Lichtpunkt reagiert sofort und bewegt sich jetzt schnell von mir weg – so, als würde er vor mir flüchten. Das kann ich nicht zulassen. Ich muss das Geheimnis des hohlen Baumes erkunden. Ich will wissen, wer hier anscheinend lebt. Wer oder was es auch ist – es hat sich sogar die Mühe gemacht, im Bauminneren einen neuen Boden zu verlegen und zu polieren. Wer würde so etwas tun? Ich muss es herausfinden. Ich nehme die Verfolgung auf.

Das soll sich allerdings als gar nicht so einfach herausstellen, denn der Lichtpunkt ist schnell und bewegt sich mit raschem Tempo immer weiter von mir weg. Erst versuche ich noch, ihn zügigen Schrittes einzuholen, muss dann aber schon bald erkennen, dass ich so keine Chance haben werde, ihn zu erreichen. Immer schneller und schneller bewege ich mich durch das Bauminnere, immer dem Lichtpunkt hinterher, erst rennend, dann sprintend. Ich muss darauf achten, dass ich auf dem spiegelglatten Boden nicht ausrutsche und stelle, während ich auf meine Schritte und darauf, das Licht vor mir nicht aus den Augen zu verlieren, achte, nun endgültig fest, dass das Innere des Baumes unendlich viel größer ist, als es von außen scheint. Irgendwas geht hier ganz und gar nicht mit rechten Dingen zu.

Von einer Sekunde auf die andere wird es dunkel. Das Licht vor mir ist ganz plötzlich verschwunden. Ich spüre Panik in mir aufsteigen, weil ich nun mitten in einer Art magischem Baum in tiefster Dunkelheit stehe, erlaube mir aber nicht, diesem Gefühl nachzugeben. Alles, woran ich denken kann, ist weiterzurennen, einfach nach vorn. Eine schlechte Idee, denn als ich mit voller Geschwindigkeit weiterrenne, pralle ich auf einmal gegen eine massive Wand, mit dem Kopf zuerst. Die Wucht des Aufschlags schleudert mich nach hinten und lässt mich zu Boden sinken. Ich lande unsanft auf dem Steißbein und muss mich eine Minute lang auf dem stockdunklen Boden sitzend sammeln. Selbst in der Dunkelheit tanzen Sterne vor meinen Augen. Ich fasse an meine Stirn – autsch. Die Haut fühlt sich schon jetzt gespannt an, so als würde sie gleich platzen. Das wird eine fette Beule geben. Mein Steißbein tut verdammt weh, und ich weiß, dass das Sitzen in den nächsten Tagen weh tun wird. Fluchend stütze ich mich auf den Händen ab und versuche, zurück auf die Füße zu kommen. Ich richte mich auf. So eine Scheiße. Ich bin mit voller Kraft in die Wand am Ende des Ganges gerannt. Das denke ich zumindest. Denn als ich die Wand abtaste, fällt mir auf, dass sie keinesfalls in der Ecke eines Raumes aufhört, sondern um eine Kurve führt. Und da dämmert es mir: Der Lichtpunkt ist so plötzlich verschwunden, weil der Gang hier eine scharfe 90-Grad-Biegung macht. Die Person, das Wesen oder was auch immer, die für den zitternden kleinen Lichtkegel verantwortlich ist, muss um die Kurve gerannt sein. Den Gang entlang, der sich hier auftut. Was ist das hier für ein Labyrinth?!

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