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Tanz II

Zuerst lesen: Teil I

„Du siehst scheiße aus“, sagt O. und lacht, während ich mir mit knöchernen Fingern die Erde aus den Augen reibe. In großen dunklen Brocken fällt sie auf den Boden. Ich öffne die Augen beziehungsweise ein Auge, das rechte, genauer gesagt. Das linke hängt auf meiner Wange und ich schiebe es unsanft zurück, dorthin, wo es gehört, bevor ich auch dieses öffne.

Was ich sehe: das heilige Triumvirat.

Ich sehe O. – Stimme der Empathie, des Mitgefühls, der Sanftheit, unendlich warm. Stimme der kindlichen Neugier, der Offenheit. Ständig in meinem Kopf, auch in meinen dunkelsten Stunden unten im Grab. Mein Bruder im Geiste, nach dessen Vorbild ich strebe zu leben.

Ich sehe A. – Stimme der Intelligenz, des messerscharfen Verstandes, der Rechtschaffenheit, des brennenden Strebens nach Gerechtigkeit, nach Gesehenwerden. Glasklar und wach ist dein Verstand. Dein eiskalter Intellekt durchschneidet alles, auch mich, mein Bruder aus einer anderen Welt, lebend in einer Blase, unerreichbar. Doch obwohl du dich abgewandt hast von mir, imitiere ich deine Bewegungen, versteckt im Schatten.

Ich sehe I. – Stimme der unantastbaren Kunst, der seine Jünger um sich scharrt, die Leinwände und analoge Kameras und Synthesizer tragen wie Schilde und Speere. Ich habe dich fallen sehen, mein Bruder der unerschöpflichen Kreativität, so wie du mich fallen gesehen hast, und so wie du bin ich nach Jahren zurückgekehrt von den Toten, um Trost zu finden in der Ästhetik, die uns schützt.

„Steh auf.“ A.s Stimme durchschneidet die Dezemberluft. Ich strecke die Hand nach ihm aus, doch er mustert nur das, was von mir übrig geblieben ist, mit eiskaltem Blick.

O. streckt mir bereitwillig eine Hand hin, doch ich ignoriere sie.

Ich kann meinen Blick nicht von A. abwenden. Angespannt und mit flehend ausgestreckter Hand warte ich, doch höre nur die Worte: „Steh auf. Im Gegensatz zu mir kannst du es doch. Warum tust du es nicht?“.

Damit rollt er zurück in die Blase aus der er gekommen ist.

„Scheiße“, schreie ich ihm hinterher, mit einer Stimme, die so rau ist als hätte ich drei Schachteln Kippen hintereinander geraucht. „Was ist dein beschissenes Problem?“ Hilflos schmeiße ich eine Hand Dreck in Richtung der Blase. „Sag mir doch endlich, was dein verdammtes Problem ist!“ Doch A. ist bereits komplett in der Blase verschwunden. „Wir sind noch nicht fertig!“, brülle ich ihm hinterher, aber bekomme keine Antwort.

„Nun“, O. räuspert sich, seine Hand weiterhin ausgestreckt, um mir hochzuhelfen. Ich ignoriere ihn erneut, denn nun steht I. vor mir, in der Hand einen Silberkelch.

„Mach dich bißchen locker und chill mal. Hier – nimm diesen Wein. Ist der gute ausm ALDI, der ganz unten im Regal liegt. So wie du ihn magst. Schön eklig. Gibt uns Kraft, so wie er es immer tut.“

Stöhnend greife ich zum Kelch, doch realisiere im letzten Moment, dass der Inhalt rot ist und nicht weiß. Mit größter Anstrengung verschließe ich meinen Mund mit den Händen. „Niemals Rotwein“, röchele ich, bevor ich erschöpft zurücksinke.

Ich muss erneut einen kurzen Moment die Augen schließen, doch als ich sie öffne, ist auch I. verschwunden. Nur O. steht weiterhin vor mir, die Hand geduldig ausgestreckt. Ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen. Ich lächele zurück, mit dem, was von meinen Lippen übriggeblieben ist. So schauen wir uns einen kurzen Moment in die Augen, bevor ich seine Hand ergreife und ihm erlaube, mich hochzuziehen. Meine Skelettbeine geben fast unter mir nach, doch ich bleibe stehen.

„Du und ich, mein Bruder“, sage ich, mein Blick fest auf ihn gerichtet, „wir gehen nun auf eine Reise.“

Hier geht die Geschichte weiter: Tanz III

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