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Tanz.

Ich öffne die Augen. Um mich herum: nichts. Also, nicht nichts, denn als ich versuche, meine Umgebung zu ertasten, spüre ich Samt, einen Rosenkranz zwischen meinen langen, knorrigen Händen. Irgendjemand hat anscheinend ein Stofftier, das sich anfühlt, wie ein ultraweicher Stoffhase, auf meine Beine, die nur noch Knochen sind, gelegt. Ich spüre den weichen Stoff und kann meine Umgebung ertasten, aber sehe nichts. Ich höre auch nichts. Es ist vollkommen still. Zu still. Mir fällt auf, dass die Luft knapp ist, so als würde sie jede Minute weniger werden. Ich huste und aus meinem Mund krabbelt irgendetwas heraus, aber es interessiert mich gar nicht. Mein einziger Gedanke: Ich muss hoch, nach oben, an die Luft, ich brauche Luft, ich muss atmen.

„Ich muss hoch, nach oben, an die Luft, ich brauche Luft, ich muss atmen“, wiederhole ich wie ein Mantra, während ich beginne, mit langen, spitzen, messerscharfen Fingernägeln an der Holzseite des Sargdeckels, der sich knapp vor meinem Gesicht beziehungsweise dem, was davon übriggeblieben ist, befindet, zu kratzen. Meine Nägel sind messerscharf. Ich kratze, kratze und kratze – bis ich spüre, dass das Holz unter meinen Nägeln dünner wird. Jetzt kommen auch meine Beine zum Einsatz. Mit aller Kraft, die in meinen Skelettbeinen übrig ist, trete ich immer wieder gegen den Sargdeckel. Dabei grunze ich wie ein Schwein. Mein linkes Auge ist nicht mehr da, wo es sein sollte, aber auch das ist mir egal.

„Ich muss hoch, nach oben, an die Luft, ich brauche Luft, ich muss atmen“. Wie ein Roboter arbeite ich mich immer weiter zurück nach oben, zumindest denke ich, dass ich mich nach oben bewege, denn ich habe jeglichen Orientierungssinn verloren. Ich schaufele mich frei. Die Erde um mich herum rieselt mir in Nase und Mund, ich kaue darauf herum, denn ich schmecke und rieche nichts mehr. War das ein Wurm? Egal, egal, alles ist ganz egal. Solange ich nach oben komme, ist alles gut. Das ist mein einziger Lebenssinn. Wie ein Wurm winde ich mich nach und nach nach oben.

Endlich – ein Schimmer fahlen Lichts durchdringt die Dunkelheit. Die Erde auf mir wird leichter, fast ist es geschafft. Nur noch ein bißchen, dann bin ich endlich oben, an der Luft. Brauche ich wirklich Luft? Muss ich tatsächlich atmen? Ja, ja, ich muss, es führt kein Weg daran vorbei, ob ich will oder nicht, es ist noch nicht vorbei.

„Du bist es wirklich!“, höre ich schon O.s Stimme durch eine dünne Erdschicht dringen. Er will mir helfen, mich zu befreien, doch ich schiebe seine Hände mit knöchernen Armen beiseite. Ich durchbreche die letzte Schicht Schmutz. Endlich – Freiheit. Ich atme ein und das, was von meinen Lungen übrig geblieben ist, füllt sich mit eiskalter Winterluft. Ich kann nichts sehen, denn meine Augen sind verschlossen von einer dicken Erdschicht.

Hier geht die Geschichte weiter: Tanz II

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