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Bär.

Das ist schon der achte Teil einer Abenteuerserie rund um die Erkundung eines hohlen Baumes. Lies hier die komplette Serie von vorn!

„Ja, wir alle haben unser Päckchen zu tragen“, betont der Bär und zieht die Mundwinkel nach unten. „Mein Name ist übrigens Milo“, fügt er hinzu. Ein Teil von mir ist überrascht von dieser plötzlichen Zugewandtheit – schließlich hat genau dieser winzig kleine Bär mir noch vor einigen Minuten die Wade mit seinen winzigen Zähnchen punktiert. Trotzdem fühle ich mich geradezu unangemessen entspannt, in Anbetracht der Tatsache, dass ich mich immer noch in einem offensichtlich magischen Baum befinde.

Ein Baum, der von außen aussieht wie ein ganz normaler Baum, aber der im Inneren eher die Dimensionen eines Schlosses zu haben scheint – und das ist nur der Teil dieses scheinbar verzauberten Ortes, den ich bis jetzt erkundet habe. Ich vermute, dass das noch nicht das Ende meiner Reise war, aber das ist natürlich nur eine Vermutung. Oder sollte ich sagen: eine Vorahnung? Tief in mir drin spüre ich, dass dieser Ort noch weitere Überraschungen für mich bereithält. Ob es sich um Überraschungen der guten oder der schlechten Art handeln wird, kann ich allerdings noch nicht vorausspüren.

So oder so: Hier liege ich nun. Auf einem blankpolierten Holzboden, in einem Raum mit drei – nein, eigentlich sogar vier – absurd kleinen Tieren. Absurd kleinen Tieren, die sprechen können. Claudine, die winzige Waldeule mit den leuchtend gelben Augen, hat gerade erzählt, dass sie schon seit ihrer Kindheit an einer tiefsitzenden Angst leidet, die sie überall hin begleitet. Vom minzfarbenen Giraffenwesen mit der in perfekten Wellen gelegten bonbonfarbenen Mähne und den schwarz lackierten Hufen kenne ich bis jetzt nur den Namen: Lee. Der Bär, der sich gerade als Milo vorgestellt hat, hat, wie bereits erwähnt, versucht, mich zu attackieren – und ist dabei aufgrund unseres Größenunterschieds natürlich kläglich gescheitert. Und dann wäre da noch die winzig kleine Maus, die, als ich die Tür zu diesem Raum, der hier eigentlich, wenn es nach den Gesetzen der Physik geht, gar nicht sein dürfte, geöffnet habe, schnell in einem Loch in der hölzernen Fußleiste verschwunden ist und die sich seitdem nicht mehr blicken lassen hat. All das ist maximal verstörend. Trotzdem fühle ich mich merkwürdig entspannt.

Warum ich nur mäßig panisch bin, obwohl ich mich in der gerade beschriebenen aktuellen Situation befinde?

Ganz einfach: Ich bin high. Die Edibles, die mir Lee, das minzfarbene giraffenartige Wesen, in den Mund geschoben hat, haben jetzt ihre volle Wirkung entfaltet. Meine Muskeln fühlen sich an wie aus einem weichen, knetbaren Teig. Meine Gedanken, die normalerweise rasen und pausenlos alles um mich herum analysieren wie eine Maschine, sind angenehm langsam. So als hätte jemand sie mit Gewichten beschwert, um sie zu zwingen, eine Pause zu machen.

Deshalb stelle ich es auch nicht weiter in Frage, dass sich mir ein Bär im Miniformat gerade in meiner Sprache vorgestellt hat und dass ich hier, dafür dass ich auf einem Holzboden liege, es eigentlich ganz bequem habe.

„Okay. Hi, Milo!“, flüstere ich, um die entspannte Stimmung nicht mit meiner dröhnenden Riesenstimme zu zerstören und die Trommelfelle der winzigen Tiere nicht versehentlich zu sprengen. „Was machst du hier, in diesem hohlen Baum? Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich dich nach deiner Geschichte frage?“

„Naja“, brummelt der Bär, „jetzt wo Claudine losgelegt und etwas über sich preisgegeben hat, kann ich mich schlecht nicht NICHT vorstellen – das wäre einfach nur unhöflich, oder etwa nicht, Claudine?“

Claudine winkt nur müde mit einem ihrer Flügel ab – augenscheinlich immer noch erschöpft von ihrer vorangegangenen Panikattacke, die mein plötzliches Erscheinen, übrigens sehr zu meinem Bedauern, bei ihr ausgelöst hat.

Mit einem besorgten Blick auf Claudine und einem Seufzen setzt der Bär erneut an. „Also“, sagt er bestimmt. „Mein Name ist Milo. Wie gesagt. Und nun …“ Ich schaue Milo mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ja?“, frage ich gespannt, da der winzige Bär augenscheinlich Schwierigkeiten damit hat, etwas bestimmtes auszusprechen.

„JAHAAA!“, fällt er mir in genervtem Ton ins Wort, „ist ja gut, man. Kann ich mal bitte kurz meine Gedanken sammeln?! Meine Fresse …“, fügt er hinzu – Aussagen, die von Claudine mit einem Japsen, das man als eine Mischung aus entsetzt und ängstlich bezeichnen kann, quittiert.

Sofort lenkt der Bär ein, Claudine beruhigend eine Hand auf die fedrige Schulter legend. „Entschuldige bitte, Claudine, ich bin wieder unhöflich …

Also. Puh. Mein Name ist Milo. Und ich bin Alkoholiker.“

Ich ziehe meine Augenbrauen noch ein wenig weiter nach oben. Der winzige Bär, ein Alkoholiker? Und wieso gibt er mir diese Info jetzt, nachdem er mir noch vor wenigen Minuten an die Kehle, oder besser gesagt den Unterschenkel, gehen wollte?

„Ja, ich weiß was du denkst“, fügt Milo hinzu, so als hätte er meine Gedanken gelesen. „Du fragst dich jetzt, warum ich dir diese Information schon jetzt gebe, obwohl wir uns gerade noch an die Gurgel gehen wollten. Also, ich dir. Und eigentlich ja auch nur, um Claudine zu beschützen. Du weißt, was ich meine. Ich finde es einfach wichtig, dass, wenn wir uns schon kennenlernen, wir uns vollumfänglich kennenlernen. Ich halte nichts davon, nur die Teile von mir preiszugeben, die sozial akzeptiert sind. Lern mich ganz kennen, mit allen Facetten meiner Persönlichkeit und entscheide dann, wie du mich findest. Keine Geheimnisse, kein Schönreden. Nur so kann wahre Freundschaft wachsen. Und ich sage gerne direkt das, von dem ich weiß, dass es für Leute problematisch sein kann wenn ich mich vorstelle. So zeigt sich ganz schnell, ob ich mit der Person klarkommen werde. Was für eine Art Mensch du bist. Wir beide verschwenden dann nicht unsere Zeit, wenn ich es so mache, verstehst du?

Also. Ich bin Milo. Ich bin Alkoholiker. Ich bin aufgewachsen in einem kleinen Dorf. Da war es ganz normal, dass alle Bären ständig Alkohol getrunken haben. Auch schon Bärenkinder mit zwölf, 13 Jahren haben von ihren Bäreneltern mal ein kleines Glas Wein zum Essen bekommen, mal ein Glas Sekt zu besonderen Ereignissen wie Hochzeiten, Taufen …“

„Ihr habt sowas wie Taufen bei euch im Bärenreich?“, unterbreche ich den Bären, überrascht von der Tatsache, dass Bären religiöse Traditionen verfolgen.

„Ja, aber sicher doch. Natürlich sind wir uns aber darüber im Klaren, dass das alles Quatsch ist mit der Religion. Wir sehen Taufen, Hochzeiten und so weiter eher als Gelegenheit zum Feiern …“

„Fürchterlich ist das …“, flüstert Claudine, für die die Vorstellung, mit anderen zu feiern aufgrund ihrer Angst sehr unangenehm seien muss.

„Ja, fürchterlich …“, stimmt Lee flüsternd mit ein. Warum genau die Vorstellung religiös motivierter Feierlichkeiten für das Giraffenwesen so fürchterlich ist, darüber kann ich zu diesem Zeitpunkt nur mutmaßen.

„Naja“, unterbricht Milo Lee in genervtem Ton und mit erhobener Stimme. „Auf jeden Fall habe ich schon früh angefangen zu trinken. Es war einfach ganz normal, weißt du. Aber als ich 14 wurde, ging es richtig los. Ich habe einfach alles zusammengekippt, zusammen mit meinem Freunden. Korn, Tequila, Wodka – alles rein, in ein großes Glas. Ein bißchen Fanta dazu, für den Geschmack. Alles umgerührt und runtergekippt, möglichst schnell. Ich erinnere mich an nicht mehr viel von diesem Abend, außer, dass ich wohl auf eine Straße gerannt bin und meine Liebe für eine Bärin, die ich zu der Zeit toll fand, herausgeschrien habe, bevor ich fast von einem Auto angefahren wurde.

Lee verdreht die Augen. „Wie einzigartig“, sagt das Giraffenwesen in sarkastischem Ton.

„Nein gar nicht, Lee“, antwortet der Bär in einem freundlichen Ton, der ein ganz klein wenig zu freundlich ist um ernstgemeint zu sein. „Ich bin mir über meine eigene Durchschnittlichkeit, meine Mittelmäßigkeit, meine absolute ‚Nicht-Besonderheit‘ schmerzhaft bewusst. Meine Geschichte ist eine, die sich tausendfach, ach, was sag ich, millionenfach wiederholt. Es ist doch immer das gleiche: Es fängt langsam an, dann geht es weiter. Als Spaß mit Freunden. Die Grenzen austesten. Mal schauen, wie weit man gehen kann.

Dann wird man älter und Dinge passieren, die nicht cool sind, verstehst du. Der erste Herzschmerz, die Scheidung meiner Eltern, der Tod meines Großvaters. Dann trinkt man auf einmal nicht mehr nur aus Spaß, auch wenn man es sich natürlich nicht eingestehen will. Denn schließlich ist man weiterhin umgeben von Freunden, die alle trinken. Es ist doch alles nur ein Spaß, nichts ist ernst gemeint, niemand hat wirkliche Probleme, wir alle sind jung. Du weißt, was ich meine. Dass unter dem Ganzen etwas Dunkles liegt, Verlust und Schmerz und Trauma, das wird einfach ausgeblendet. Du schüttest etwas drauf, auf den Schmerz, die Angst, die Traurigkeit und irgendwas füllt es in dir. Wenn auch nur für ein paar Stunden. Und du versuchst, diese glückselige Berauschtheit festzuhalten, diese wunderbare Dummheit und momentane Sorglosigkeit, aber das ist natürlich nicht möglich. Am nächsten Tag holt dich alles wieder ein. Und dazu kommt noch die Peinlichkeit. Das Gefühl, wenn du an die Dinge denkst, die du, aber auch die deine Freunde, gestern im Rausch gesagt und gemacht haben.

Aber anstatt etwas zu ändern, aufzuhören, darüber nachzudenken, warum du eigentlich wirklich trinkst, warum du es immer wieder brauchst, machst du halt einfach weiter. Es wird zum Teil deiner Identität. In meinem Fall hab ich mich irgendwann entschieden, und ich weiß jetzt, dass das eine dumme Idee war: Ich will Gitarrist in einer Metal-Band werden.“

Ich unterdrücke ein Grinsen, hinterfrage diese Information nicht und nicke dem Bären aufmunternd zu, um ihn zu ermutigen, seine Geschichte vorzuführen.

„Und wie du weißt“, fährt Milo vor, „Metal-Musiker saufen. Das gehört halt einfach zum guten Ton dazu. Man säuft, wenn man probt. Man säuft vor dem Auftritt, trinkt was auf der Bühne, säuft danach weiter. Metal ist ein Lifestyle, weißt du …“

Lee, das Giraffenwesen, verdreht erneut die Augen, doch Milo ignoriert das. Stattdessen macht es sich der Bär jetzt richtig auf dem Boden bequem. Die Pranken hinter dem Kopf verschränkt und lang ausgestreckt, fährt er fort:

„Wo bin ich stehengeblieben? Ach ja, Metal und saufen. Das gehört einfach zusammen. Das kannste nicht trennen. Es war auch nicht nur eine beschissene Zeit, das kann ich so echt nicht sagen. Ich mochte die Jungs aus der Band. Also, meistens. Wenn sie sich nicht gerade komplett weggeschädelt und dann danebenommen haben. Ich stand auf Bühnen und manchmal haben uns sogar 300 Bären zugehört. Das war schon ein gutes Gefühl. Aber manche Leute wissen halt einfach nicht wann Schluss ist. Die trinken einfach weiter und weiter und weiter und weiter. Bis sie dann auf richtig dämliche Ideen kommen. Ich bin einer von diesen Bären, die einfach kein Ende finden. So lange nicht, bis was passiert. Bis es eskaliert.“

Ich nicke verständnisvoll und frage leise: „Und wann wusstest du, dass du aufhören musst?“

„Oh, das war der Tag nachdem ich mich schlafen gelegt habe“, sagt der Bär mit einem Lächeln und ausdruckslosen Augen.“

„Als du dich schlafen gelegt hast?“, wiederhole ich fragend.

„Ja. Nachts um 3. Es war eine Februarnacht. Es hat geschneit. Eine dünne Schicht, es können nur wenige Zentimeter gewesen sein, hat den Boden bedeckt. Er sah so frisch und sauber aus. So rein. Wie ein frischbezogenes Bett. Ich wollte nur ein kurzes Nickerchen machen. Also habe ich mich hingelegt. Mit dem Gesicht nach unten.“

Ich staune. „In den Schnee? Nachts im Februar? War das nicht wahnsinnig kalt?“, frage ich.

„Darauf kannst du wetten. Minus 5 Grad, meinten sie.“, entgegnet Milo seufzend.

„Sie?“, frage ich.

„Die Pfleger im Krankenhaus. Bin nach ein paar Stunden da wieder aufgewacht. Sie haben gesagt, wenn mich nicht zufällig dort jemand im Schnee gefunden hätte, hätte ich das nicht überlebt. Ich hätte sterben können. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Zack …“.

Claudine lässt ein leises Wimmern hören. Der Bär legt seine kleine Pranke auf ihre fedrige Schulter. „Alles gut. Ich habe seitdem keine Drogen mehr angerührt. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch kein Bedürfnis, das jemals wieder zu tun.“

„Aber Edibles sind –“, bevor ich meine Frage beenden kann, unterbricht der Bär mich scharf. „Weed ist Medizin. Okay?“.

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