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Liebe Ilse.

Ein von einer Postkarte vom 4. Mai 1966 inspirierter Beitrag.

Text auf der Rückseite der Postkarte: „4.5.66. Liebe Ilse! Herzlichen Dank für deine Karte. Ich freue mich, dass deine Kur guten Erfolg hat. Bruno hat am 2. Mai seine neue Arbeit in D. aufgenommen. Er ist sehr schwer von hier fortgegangen. Hoffentlich nimmt alles für uns eine gute Wendung. Am Samstag fahre ich nach Dresden, dann erfahre ich schon mehr! Auf Wiedersehen in Wittenberg. Recht herzlich, deine Gertrud.“

Mit einem tiefen Seufzen greift Bruno zum silbernen Zigarettenetui mit den geschwungenen eingravierten Initialen „B.S.“. Langsam zieht er eine Zigarette heraus, wirft das Etui auf den runden Beistelltisch zurück, greift zum silbernen Feuerzeug, das neben dem Aschenbecher aus Kristallglas liegt, und zündet sie an. Bevor er den Geschmack des Nikotins wahrnehmen und die Wirkung des Nervengifts einsetzen kann, greift er zum Glas, in dem klappernde Eiswürfel in zwei Fingerbreit Whiskey schwimmen. Er stürzt das Getränk in einem Zug herunter und spürt, wie die eiskalte Flüssigkeit seine Kehle herunterrinnt. „Mein Gott, was für ein Tag“, mit diesem Gedanken lehnt er sich, noch einmal seufzend, im Ohrensessel aus blassgrünem Plüsch zurück und schließt für einen Moment die Augen.

Die Geräusche des Fußballspiels, das im Fernsehen übertragen wird, erfüllen den Raum. Das Pfeifen des Schiedsrichters, das Brüllen des Trainers auf der Bank, der unverständliche Sprechchor der Zuschauer im Hintergrund – Bruno kennt diese Geräusche nur allzu gut. Normalerweise vermitteln sie ihm ein Gefühl der Sicherheit, wie es nur Dinge vermögen, die einen schon das ganze Leben lang begleiten. Normalerweise. Denn an diesem Dienstagabend im Mai, einem ungewöhnlich heißen Dienstagabend im späten Frühling, einem frühen Sommer, der noch nicht richtig da ist, aber jederzeit einfallen kann, verursachen diese altbekannten Geräusche bei ihm nur eins: ein tiefes, profundes Unwohlsein.

Doch das Unwohlsein ist nicht erst seit heute da. In den letzten Wochen hat jeden Tag ein kleines bisschen mehr auf ihn gedrückt. Es liegt auf dem Magen, der sich, seitdem er Wittenberg verlassen hat, fast täglich schmerzhaft zusammenzieht. Es liegt auf dem Rücken und den Schultern, die sich seit einiger Zeit verspannt und hart anfühlen. Vor allem liegt es auf dem Kopf. Er hat Schwierigkeiten damit, einen klaren Gedanken zu fassen und zu halten. Und das Schlimmste: Er vergisst. Dinge, die er früher niemals vergessen hätte, wie den Schlüssel nach dem Nachhausekommen von innen wieder ins Türschloss zurückzustecken oder den kleinen Kaktus auf dem Tisch links neben der Gästetoilette zu wässern, entfallen ihm jetzt ständig. Weil sie nicht mehr wichtig sind. Vieles, das in seinem Leben vor einigen Wochen noch ein fester Bestandteil einer Routine war, die es um jeden Preis aufrechtzuerhalten galt, ist jetzt wertlos.

„Wofür das Ganze noch?“, fragt er sich, mit geschlossenen Augen an der Zigarette ziehend und kreist mit den Schultern, was den Schmerz, den die tiefsitzende Verspannung mit sich bringt, für einen kurzen Moment lockert. Er hört das Klappern der Teller in der Küche und zählt langsam von zehn herunter. Bei 0 angekommen, wird Gertrud ihn zum Essen rufen. Es schaudert ihn bei dem Gedanken noch ein weiteres wortloses Mal, mit dieser in die Jahre gekommenen Frau runterwürgen zu müssen.

Einen Kriegsverbrecher haben sie ihn genannt. Ihn, der doch immer nur aus tiefster Überzeugung, mit Integrität und dem Besten für sein Vaterland im Sinn gehandelt hatte. Eine Schande, dass Menschen wie er, die treuesten und loyalsten, nun den Preis zahlen müssen für etwas, das sie aus tiefer Ergebenheit getan haben. Anweisungen hat man zu befolgen, das hatte er schon als Junge lernen müssen. Denn wenn er sich den Lehrern oder dem Vater widersetzte, hagelte es Schläge, auf den Hintern und ins Gesicht. So hatte er früh gelernt, dass es absolut sinnlos ist, sich gegen Autoritäten jedweder Art aufzulehnen. Und mit dieser Einstellung, mit dieser bedingungslosen Loyalität, hatte er es weit gebracht. Also, für seine Verhältnisse und unter den gegebenen Umständen. Mehr als 20 Jahre ist das jetzt alles her. Was wollten sie denn noch mit diesen uralten Geschichten von damals? Warum sein Leben jetzt zerstören? Es wäre besser gewesen, wenn sie ihn gleich ’45 hingerichtet hätten. Dann hätte es wenigstens ein schnelles Ende gegeben. Sein geliebtes Wittenberg hatte er zurücklassen müssen, nur um schneller für die andauernden Verhöre zur Stelle zu sein.

„Bruno?“, ruft Gertrud aus der Küche. Bruno seufzt ein drittes Mal.

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