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Zodiac.

Lange, in eine kantige Form gefeilte künstliche Fingernägel kratzen an meiner Kopfhaut. „Coffin-shaped, heißt das, wenn die Nägel diese Form haben“, sagt Olivia. „Aha“, sage ich. Sargnägel also. Ich beobachte, wie die beige lackierten, mit Glitzersteinen kunstvoll verzierten Sargnägel immer wieder in meinen Haaren versinken. Nicht beige, sondern „nude“, sind sie, korrigiere ich mich selbst. Olivia holt jetzt einen Kamm hervor und betrachtet mich kritisch im Spiegel, während sie kaugummikauend meine Haare von links nach rechts und von rechts nach links bürstet. „Was machen wa heute?“, fragt sie. „Ach, eigentlich am besten nix. Ich will, dass meine Haare möglichst schnell wachsen und wieder so aussehen wie vorher, aber ohne, dass sie zwischendrin, also während sie wachsen und länger werden, scheiße aussehen. Kriegen wir das irgendwie hin?“, frage ich und schaue Olivia interessiert an. Ich will wissen, wie sie auf diese doch eher vage Aussage reagiert. Sie bürstet weiter meine Haare von links nach rechts, von rechts nach links und denkt nach. Schließlich sagt sie knapp: „Jupp. Mach ick dir.“

Wusste ichs doch – Olivia ist ein Profi. Der Choker um ihren Hals bewegt sich im Takt ihres Kaugummikauens.

„Kurze Haare sind halt praktisch, ne?“, sagt sie.

„Jupp, aber …“, setze ich an.

„Scheiß auf praktisch!“, sagen wir gleichzeitig und müssen lachen.

Ich mag Olivia.

Während sie im Wagen neben dem Frisierstuhl auf dem ich sitze, anfängt nach diversen Spangen und Scheren zu kramen, und zwischendurch an ihrer Jogginghose in Lederoptik zieht, vermutlich, weil es so warm im Salon ist, dass die an ihrer Haut klebt, beginnt Olivia zu reflektieren.

„Ich bin so sauer übrigens gerade …“, sagt sie.

„Auf …?“, frage ich zurück.

„Alles“, entgegnet sie knapp und in einem Ton, der darauf schließen lässt, dass sie wirklich nicht sonderlich gut drauf ist.

„Wie? Alles?“, frage ich wieder.

„Ja, ehrlich gesagt, echt alles. Aber vor allem auf den Westen.“

„Den Westen?“, frage ich leicht irritiert zurück.

„Ja. Was soll das überhaupt sein? Ist doch nur was, was irgendwelche Männer sich ausgedacht haben, der scheiß Westen … Scheiß priviligierte Kackscheiße.“

„Ja“, sage ich und weiß nicht, was ich sagen soll, weil ich nicht auf politische Diskussionen vorbereitet war.

„Die Israel-Politik ist fürn Arsch. Die Klimakrise macht uns alle fertig, weil irgendwo irgendwelche weißen scheiß Dudes aus scheiß Profitgeilheit die Umwelt kaputt gemacht haben. Wenn ein Milliardär in irgendnem U-Boot stirbt, rasten alle aus. Was ist denn aber mit den Flüchtlingen, die ständig im Mittelmeer ertrinken? Das interessiert wieder alle nen Scheißdreck.“ Aggressiv klippt Olivia meine Haare mit Spangen zurück und piekst mir dabei mit den Spangen in meine Kopfhaut. Ich traue mich nicht, sie darauf hinzuweisen, dass das wehtut.

„Du hast recht“, sage ich stattdessen.

„In der BILD hab ich gelesen: ‚Um 12.18 Uhr geht ihnen im Uboot die Luft aus‘ – hat mir irgendwie krass Panik gemacht als ich das gelesen hab. Hab dann heute um 12.18 Uhr auf die Uhr geschaut und mir vorgestellt, wie sie jetzt im Uboot langsam ersticken …“

„Das tut mir leid“, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt.

„Ja. Danke.“, sagt Olivia in wütendem Ton und fügt hinzu: „Wer schreibt so ne Scheiße denn?! Was soll das denn?! Den Leuten immer schön Angst und Panik machen hier, ne … Implodiert stand da. Implodiert ist das Boot.“

„Mhm“, mache ich.

Olivia fängt jetzt an, mit einer gezackten Schere direkt in meine Haare zu schneiden. Dicke Haarbüschel fallen auf den Boden. Ich habe keine Ahnung, was da passiert, lehne mich aber zurück. Olivia ist ein Profi und weiß, was sie tut. So viel ist sicher.

„Implodiert. Musste ich erstmal googlen. Kannte ich nicht, das Wort. Weißt du, was das ist?“

Ich überlege kurz. „Ich glaube, implodieren ist, wenn etwas von außen nach innen gedrückt wird. Also, zusammengequetscht. Oder?“

„Nee“, sagt Olivia energisch. „Also ja. Wegen dem Druck.“

Wir schweigen eine Minute. Nur das Klappern der Schere, die haarscharf an meiner Kopfhaut vorbeischrammt, durchbricht die Stille.

„Allein die Vorstellung. In 3.800 Metern Tiefe war das, hab ich gelesen. Denkst du, man kann da überhaupt noch sehen?“

„In 3.800 Metern Tiefe? Nein. Ich denke nicht“, sage ich, bin mir aber nicht sicher, ob nicht vielleicht doch etwas Licht von der Wasseroberfläche bis nach unten dringen könnte. Ich weiß wenig über Meeresbiologie, wird mir in diesem Moment bewusst. Ich schäme mich für meinen Mangel an Wissen.

„Stell dir vor. Du bist da unten, in 3.800 Metern. In vollkommener Dunkelheit. Und wartest auf deinen Tod. Wie lebendig begraben werden ist das …“, sinniert Olivia.

Ich schlucke, sage nichts und nicke nur, weil ich eine lebhafte Fantasie habe und mich zu stark in Dinge hineindenke und mir jetzt lebhaft vorstelle, wie das wäre, in 3.800 Metern Tiefe auf den Tod zu warten. Dann komme ich zu dem Schluss, dass es ja eigentlich egal ist, wo genau wir auf den Tod warten, weil eins sowieso feststeht und zwar, dass er ja sowieso irgendwann kommt. Ob in 3.800 Metern Tiefe, im 18. Stock eines Plattenbaus oder auf Bahnschienen im Morgengrauen, irgendwann kommt er, und wenn er kommt, ist alles scheißegal. Der Klimawandel, Rechtsextremismus, weiße Fragilität, TERFs, toxische Männlichkeit, Boss Babes, Nepo Babies, Cancel Culture, das Ende der Diskussionskultur, das Ende der Diplomatie, das Ende der Empathie – alles ein riesengroßer Haufen Scheiße. Und am Ende ist alles scheißegal.

„Kopf ruhig halten“, sagt Olivia und fügt fast ohne Pause hinzu: „Meine Mutter hat Angst, dass ich mich radikalisiere.“

Ich höre auf zu nicken. „Radikalisierst du dich denn?“, frage ich.

Oliva überlegt, während sie weiter mit der gezackten Schere in meinen Haaren herumschneidet.

„Nee“, sagt sie schließlich. „Ich bin nur wütend.“ Nach einer erneuten Pause fügt sie hinzu: „Vor allem auf meinen Ex eigentlich.“

Aha. Das ist spannend. „DER Ex?“, frage ich vorsichtig, weil Olivia nun eine andere, scharf aussehende Schere in die Hand nimmt und beginnt, die Konturen meiner Ohren auszuschneiden. Kurz denke ich darüber nach, ob Van Gogh vielleicht in Wahrheit sein Ohr bei einem Friseurunfall verloren hat und nur gesagt hat, dass er es sich abgeschnitten hat, um sein Profil als Künstler zu schärfen, aber dann durchbricht Olivia die angespannte Stille.

„Ja natürlich, DER Ex“, sagt sie laut und in genervtem Ton, während sie mit offenem Mund Kaugummi kaut.

„Hat er sich also mal wieder gemeldet …“, sage ich und hoffe, dass Olivias Wut sich nicht auf mich richtet, doch sie ignoriert mich zum Glück.

Stattdessen schnauzt sie: „Ich hab die Schnauze voll. Dieses Mal wars das. Aber echt …“

„Gut …“, sage ich vorsichtig.

„Ich hätt‘s gleich wissen sollen. So ein absoluter Vollarsch. Kannste dir nicht ausmalen. Löwe, Aszendent Krebs. Kannste dir nicht ausmalen. Einfach nur dämlich von mir, das überhaupt zu versuchen mit dem Penner. Ich mein: LÖWE. Arrogant, denkt, die Welt dreht sich nur um ihn. Ganz toller Typ. GANZ toll. War von Anfang an dämlich. Hab mir mal sein Birth Chart angeschaut. Von Anfang an dämlich.“

„Sein … was?“, frage ich.

„Ach, ist so ein Zodiac-Ding.“

„Ah“, mache ich.

Wir schweigen. Die scharfe Schere schnippt haarscharf an meinem Ohr vorbei.

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