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Die Ladenhüterin.

‚In mir erklingt die Stimme des Konbini, sie verstummt nie. Ich wurde geboren, um diese Stimme zu hören.‘ Shiraha wich furchtsam zurück, als ich ihn mit Worten überhäufte. ‚Jetzt weiß ich es. Ich bin nicht nur ein Mensch, ich bin Konbini-Angestellte. Auch wenn ich als Mensch nicht ganz normal bin und sterbe, wenn ich nicht genug esse, kann ich dem nicht entkommen. Mit jeder Zelle lebe ich für den Konbini.‘

Sayaka Murata, Die Ladenhüterin

Keiko ist eine Ladenhüterin. Sie arbeitet nämlich 18 Jahre lang im gleichen Supermarkt. Und sie liebt ihren Job. So sehr, dass sie vollkommen darin aufgeht und dieser Supermarkt ihr ganzer Lebensinhalt wird. Keiko ist auch ein herzensguter Mensch, aber trotzdem eine Außenseiterin, was daran liegt, dass sie Emotionen offensichtlich anders spürt als andere Menschen, sich nicht ausdrücken kann und blind ist für Zwischentöne in der Kommunikation. So kann sie es zum Beispiel einfach nicht verstehen, dass Mitglieder ihrer Familie traurig sind, als ein Vogel stirbt und ihn beerdigen wollen. Keikos Ansicht nach ist es doch viel sinnvoller, einfach noch weitere Vögel zu töten und sie zum Abendessen zu braten. Auch wenn sie von anderen beschimpft wird, trifft sie das nicht, sondern sie nimmt es nur sachlich hin. Viele dieser Schilderungen von Keikos Schwierigkeiten im Alltag und im Umgang mit anderen Menschen sind komisch und gleichzeitig traurig.

Ich habe gelesen, dass einige an Die Ladenhüterin kritisieren, dass das Buch „zu sehr“ auf Keikos Behinderung „herumreite“, da sie „offensichtlich autistisch“ sei, was man als Leser*in „schon verstehe“ und man „das nicht so in den Mittelpunkt stellen müsse“. Diesen Eindruck teile ich nicht. Es wird meiner Erinnerung nach an keiner Stelle im Buch explizit gesagt, dass Keiko autistisch ist, was mir zeigt, dass einige Menschen dazu tendieren, andere zu pathologisieren – ein Trend, den ich sehr nervig finde. Was wäre außerdem so schlimm daran, eine autistische Protagonistin zu haben, die ihre Umgebung nun einmal anders wahrnimmt als andere? Ist nicht genau das spannend (und außerdem auch wichtig, Thema „Sichtbarkeit“)?

So oder so: Auch in mir hat Keiko etwas ausgelöst. Persönlich fand ich nämlich Keikos Unschuld und Naivität im Umgang mit anderen, die ihr so kalt begegnen und sie teils grausam behandeln und ausnutzen, sehr traurig. Ich hatte das Bedürfnis, mich auf ihre Seite zu stellen und sie vor dieser kalten und harten Welt zu beschützen. Weil ich es absolut nicht ausstehen kann, wenn andere ausgegrenzt werden, nur weil sie nicht in Schubladen passen, wollte ich die Person sein, die die anderen Menschen, die so herzlos zu Keiko sind, zurechtweist und ihnen sagt, dass das so nicht läuft. Ihr ein*e Freund*in sein.

Da ist nur die Sache: Keiko selbst nimmt das Verhalten der Menschen um sie herum überhaupt nicht als problematisch wahr. Die Ladenhüterin hat mich damit dazu gebracht, eigene ableistische Tendenzen zu reflektieren, andere beschützen und ihnen helfen zu wollen, die selbst Grenzüberschreitungen nicht wahrnehmen, zufrieden in „ihrer“ Welt sind und die ihren Alltag eigenständig und souverän meistern – und noch wichtiger: die überhaupt nicht nach Hilfe gefragt haben. Das mochte ich sehr an diesem Buch und ist definitiv etwas, das mich inspiriert hat.

Zusätzlich kritisiert die Die Ladenhüterin auch das kapitalistische Streben nach „mehr“ im Beruf. Warum wird Menschen, die einfach zufrieden sind mit ihrem Job und die nicht nach „Höherem“ streben, abgesprochen, dass sie glücklich sein können? Warum ist es für viele so ein rotes Tuch, dass es Menschen gibt, die nicht konstant nach mehr Geld, noch besser klingenden Titeln oder mehr Verantwortung im Job eifern? Warum ist „stehenbleiben“ für viele so schwierig?

Ich mochte auch Sayaka Muratas Erzählstil, der klar, einfach, anschaulich und präzise ist. Ich konnte mir Keikos Supermarkt und ihren Alltag sehr gut vorstellen und habe Eindrücke von der japanischen Kultur gewonnen.

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