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Die Jahre.

Die banlieues beschäftigten die Fantasie. Man stellte sich eine Betonwüste und verwilderte Brachen an den Endstationen der Bus- und RÖR-Linien im Norden von Paris vor. Treppenhäuser, die nach Urin stanken. Zerbrochene Fensterscheiben. Kaputte Aufzüge und benutzte Spritzen im Keller. Der Dialog der Kulturen beschränkte sich darauf, ihren Akzent nachzuahmen. Wie sie die Silben umzudrehen.(…) Sie waren viele. Man kannte sie nicht.

Annie Ernaux, Die Jahre

Die Jahre von Annie Ernaux ist 2008 auf Französisch erschienen. Die Literaturnobelpreisträgerin beschreibt darin, wie sich ihr eigenes Leben und die französische Gesellschaft in der Zeit von 1941 bis Anfang des 21. Jahrhunderts gewandelt hat. Es geht unter anderem um den Wandel des Frauenbildes im Laufe der Zeit, das sich verändernde Konsumverhalten, den Umgang mit unter anderem algerischen Einwanderer*innen und – das ist das zentrale, Werk-übergreifende Thema von Annie Ernaux – den Wechsel von Milieus innerhalb einer Gesellschaft. Dieses Thema hat seinen Ursprung in Ernaux‘ eigener Biografie. Sie ist in einem sehr katholisch geprägten, bäuerlichen Dorf-Milieu mit sehr armen Eltern, die trotz Schuften nie genug Geld hatten, aufgewachsen.

In Die Jahre beschreibt Ernaux Milieus, die politischen Umstände und den gesellschaftlichen Wandel präzise und knapp, in Form von aneinandergereihten Fakten und Stimmungen. Dabei nimmt sie auch gegenüber sich selbst eine distanzierte Haltung ein. Erklärungsversuche, warum sie handelt wie sie handelt, sind selten. Tiefgehende Erklärungen bleiben aus. Beim Lesen entsteht das Gefühl, das Ernaux versucht, ihr eigenes Leben in einen Gesamtkontext einzuordnen und einen Zusammenhang zwischen sich selbst und dem „großen Ganzen“ – der Gesellschaft an sich – zu finden. Dabei wird ihr ethnologischer Blickwinkel deutlich.

Denn sie beschreibt wie eine Feldforscherin – protokollarisch, konkret und präzise – was sie sieht, ohne das Gesehene zu bewerten. So erweckt sie einzelne Situationen – wie eine Gartenparty mit Künstler*innen – zum Leben. Als Leser*in hat man gleichzeitig viel Interpretationsspielraum und fragt sich zum Beispiel wie Ernaux persönlich zu politischen Entwicklungen steht. Eine Bewertung gesellschaftlicher Umstände und Veränderungen bleibt nämlich größtenteils aus. Die Jahre ist also eine Mischung aus Biografie und Geschichtsschreibung.

Es ist ein sehr komplexes Unterfangen, einen so distanzierten Blickwinkel einzunehmen, dass es gelingt, das eigene Leben akkurat in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext einzuordnen. Außerdem gefällt mir generell an den Werken von Annie Ernaux ihre Fähigkeit, mit Hilfe von reduzierter, klarer Sprache in den Lesenden Emotionen zu wecken. Und: Sie kritisiert Missstände nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern regt rein durch das Beschreiben von Situationen dazu an, das eigene Verhalten und die eigene Stellung in der Gesellschaft zu reflektieren. Auf diese Art Kritik zu üben ist eine Gradwanderung. Dass es ihr gelingt, finde ich bewundernswert.

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