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Transfiguration.

„Mein Sohn war ein guter Mensch. Das können hier alle bestätigen“, sagt Frau A. in den Raum hinein. Gefühlt verstreichen Minuten, wahrscheinlich sind es aber nur Sekunden. Sie fährt fort, einen tiefen Zug von ihrer Zigarette nehmend, während ihr Blick ins Leere läuft. „Wissen Sie, wie sie ihn nennen, meinen Matteo?“

Ich schweige. Es ist meine Pflicht, Frau A. den nötigen Raum zu geben. „Nun. Sie nennen ihn den Cyber-Heiligen. Den Influencer Gottes. Es ist absurd, oder?“, Frau A. nimmt einen weiteren Zug von ihrer Zigarette und stößt ein freudloses Lachen aus. „Mein Sohn, der Heilige. Wer hätte das gedacht. Der Sohn eines Unternehmensberaters und einer ehemaligen Anwaltsgehilfin. Ein waschechter Heiliger. Nun ja, Sie wissen, was ich meine. Waschecht wohl noch nicht so ganz, denn die Heiligsprechung ist, wie Sie wissen, ein Prozess. Aber mein Matteo ist auf dem besten Weg dahin und wenn es jemand verdient hat, dann wohl mein Junge.“

Sie schweigt einen Moment und richtet den Blick zu Boden. Frau A. ist geübt ihm Umgang mit Vertretern der Medien, das merkt man in diesem Moment ganz deutlich, denn man spürt, dass sie etwas hinzufügen würde, wenn wir in privater Runde zusammensitzen würden, zum Beispiel bei einem Abendessen in einem Restaurant, vor uns ein Steak, medium gebraten, aber das tun wir nicht – wir sitzen in einem Raum mit großen Panoramafenstern, in dem Frau A. heute der Presse schon acht Interviews am Stück gegeben hat und sowieso würde die Frau eines der bestverdienenden Unternehmensberaters Spaniens nicht mit einem gewöhnlichen Redakteur ein Steak essen gehen, deshalb schweigt sie noch einmal für einen Moment und streicht den schwarzen Rock ihres Tweet-Kostüms glatt, bevor sie fortfährt.

„Ich selbst habe damit nie viel am Hut gehabt, wenn Sie wissen, was ich meine. War vielleicht drei Mal im Leben in einer Kirche. Aber mein Sohn – er war anders als ich selbst. Wenn ich so darüber nachdenke, war Matteo weniger ein Sohn, sondern eher ein Vater für mich. Eine Autoritätsperson. In dem Sinne, dass er mir, jemandem, der in seiner eigenen Familie nicht in Kontakt mit dem Glauben gekommen ist, Gott nahebrachte. Er mir Vieles beigebracht. Er war ein guter Junge.

Glaubte an das Wunder der Transfiguration, mein Matteo. Verzeihen Sie, ich muss mich korrigieren. Schreiben Sie bitte: ‚Mein geliebter Sohn wusste um das Wunder der Transfiguration‘, ja? Damit meine ich: Er war nicht nur davon überzeugt, dass er bei der heiligen Eucharistie den Leib unseres Herrn Jesu Christi in sich aufnimmt – mit jedem Schluck aus dem heiligen Kelch und jedes Mal, wenn er die Hostie verspeist hat. Er wusste vielmehr, dass im Kelch das wahrhaftige Blut unseres Herrn ist. Dass die Hostie sein echter Leib ist. Mit jedem Schluck und jedem Bissen ist er ihm näher gekommen. Und mit jedem Schluck und jedem Bissen wuchs sein Bedürfnis, die Lehren und Worte unseres Herrn hinauszutragen in die Welt. Und, wie sie ja selbst wissen, war Matteo kein Prophet wie er im alten Testament vor Tempeln stand. Nein. Mein Sohn nutzte die Macht des Internets, um das Wort unseres Herrn auch den Gottlosesten unter Ihnen nahezubringen.“

Frau A. zieht noch einmal an ihrer Zigarette und fährt fort.

„Nun, Sie können es sich so vorstellen: Wie der Leib Jesu Christi in Wein und Brot transfigurierte, sind Blut und Fleisch meines geliebten Sohnes nun in Datenblöcke transfiguriert, in Bits und Bytes, wenn man das denn so ausdrücken mag. In Einsen und Nullen. Verstehen Sie? Und jedes Mal, wenn Sie es nun nutzen, das Internet, geht ein Teil meines bald heiligen Sohnes in Sie selbst über. Ist es, wenn man es so ausdrücken mag ein modernes Wunder, was übrigens auch ein guter Titel für Ihren Text wäre, denken Sie nicht? ‚Die Transfiguration des Heiligen Matteo in Bits und Bytes‘. Denn selig sind die, die im Internet die frohe Botschaft verkünden. Und jedes Mal, wenn Sie Daten im Internet austauschen, tauschen Sie ein Stück meines geliebten Matteo untereinander aus, teilen ihn wie das Brot, das der Herr Jesu Christi gebrochen hat. Mein Sohn ist nun ein Teil von uns allen. Sie können sich ihm nicht entziehen.“ Frau A. zieht die Mundwinkel nach unten, bevor sie hinzufügt: „Ob sie wollen oder nicht.“

Nach diesen Worten schweigt Frau A. Sie wirkt müde. Die dunklen Ringe unter den Augen kann auch der, wie ich vermute teure, Abdeckstift nicht überdecken. Sie blickt zunächst zu Boden, lehnt sich im mit dunkelblauen Samt bezogenen Sessel zurück und seufzt, bevor Sie ihre Augen direkt auf mich richtet und mir zum Abschluss unseres Gesprächs eine Frage stellt – in einem Ton, der dieses Mal kein Schweigen erlaubt.

„Können Sie sich vorstellen, wie es sich anfühlt, das eigene Kind sterben zu sehen?“.

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