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Heimatlos.

Dieser Beitrag ist inspiriert von der Doppelausstellung „Berliner Ikonen“ und „Heim@los“, die im Rahmen des europäischen Monats der Fotografie 2023 (EMOP) entstanden ist. Die Ausstellung kann noch bis zum 2. April 2023 in der Galerie Strassenfeger O12 besucht werden.
Credit: Downtowngal, Bed of a Homeless Person, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

„Hey. Hey! HEY. Jetzt warte doch mal. Warte doch jetzt mal, hab ich gesagt!“

M. rennt panisch Richtung Flur, das Gesicht tränenüberströmt.

K. taucht im Türrahmen auf, ein circa 20 Zentimeter langes Küchenmesser schwenkend.

M. greift nach einem Paar Schuhe, schmeißt die Tür hinter sich zu und rennt barfuss ins Treppenhaus. Fast fällt sie die Treppe herunter, während sie nach unten rennt und hört dicht hinter sich K. schreien.

„Hab ich dir doch gesagt, dass du jetzt verdammt nochmal warten sollst. Heey!“

M. ist jetzt endlich unten angekommen, will nur noch raus, auf die Straße, hat es endlich geschafft. Versucht, sich im Rennen die Schuhe anzuziehen, stolpert, rappelt sich wieder auf und rennt weiter. Weit entfernt hört sie K. noch schreien:

„Dann verpiss dich halt. Du blöde Bitch“, bevor der Lärm von Autos und Lkw endlich das Geschrei übertüncht.

Als M. um die Ecke biegt, herrscht einen Moment lang Ruhe in der Wiesenstraße. Eine Gardine im dritten Stock wird ruckartig zugezogen.

„Ja, schön. Habt ihr alle schön was zu schauen. Habt ihr auch mal ein bißchen Unterhaltung, ne?“, K. schwingt das Küchenmesser in Richtung der beleuchteten Fenster. „Schaut halt alle her“, K. lacht jetzt ein bißchen irre. „Verdammte Spießer, verdammte Spießer, ihr seid noch nichts als verdammte Spießer.“

Einen Moment lang herrscht wieder Ruhe, K. scheint sich zu sammeln. „Ja, keine Ahnung, ey. Und jetzt?!“, schreit er die beleuchten Fassaden an.

Aus dem Haus gegenüber schreit jemand: „Bullen sind auf dem Weg, du Arschloch!“.


All das kriegt M. schon nicht mehr mit, denn sie ist schon drei Straßen weiter. Sie ist noch nie so schnell gerannt, noch nicht mal als sie als Kind im Wald von einer wildgewordenen Schar Gänse verfolgt wurde. Sie fliegt förmlich über den Asphalt, wie eine Sprinterin, die Füße berühren kaum den Boden. Das Adrenalin treibt sie voran, immer weiter nach vorne, weg, einfach nur weg. Irgendwann nimmt sie wahr, wie die Umgebung sich um sie herum verändert. Aus Nebenstraßen mit aneinandergereihten Wohnblöcken werden fünfspurige Hauptverkehrstraßen. Werden von Flutlichtern bestrahlte Industriegebiete. M. fliegt weiter und weiter. Bis sie unter einer nach Pisse stinkenden Fußgängerunterführung nicht mehr fliegt.

Das Herz pumpt und pumpt und pumpt Blut in die Halsschlagader, die Hände schweißnass und unkontrolliert zitternd. M. versucht Luft zu holen, aber die Kehle ist zugeschnürt. Als hätte jemand ein dünnes Band um den Hals gelegt, das langsam immer weiter zugezogen wird. Was ist das? M.s Herz rast und rast. Sie versucht, Luft zu holen, aber es geht nicht, es geht nicht, wie sehr sie es auch versucht, immer schneller atmet sie ein und aus und macht dabei ein merkwürdiges Geräusch, für das sie sich schämt. Ein „mhmmmm“, „mhmhmmm“. Tränen schießen ihr in die Augen. Nicht vor Schmerzen, sondern weil es peinlich ist. Es ist peinlich. Panikanfälle in der Öffentlichkeit sind peinlich. Leute schauen sie an. Warum sind um diese Uhrzeit hier, in diesem dämlichen Industriegebiet Leute unterwegs? Sie sieht, dass Leute sie anschauen, aber es gibt nichts, was sie jetzt noch tun kann. Es ist zu spät.

Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie eine Frau in einer pinken Daunenjacke und weißen Moonboots ihrer Freundin, ebenfalls Moonboots-tragend, einen Ellenbogen in die Seite stößt und hört wie sie ruft: „Ey guck mal, die Alte hat ne Panikattacke, oder so.“

„Lass die. Lass die mal, ey. Die is doch druff“, sagt die Freundin und beide gehen weiter.

M. schämt sich und gleichzeitig ist es ihr egal, denn was jetzt zählt, ist Luft zu bekommen.

„Mmmmh“, M. greift sich mit den Händen an den Hals. Schwarze Punkte springen vor ihren Augen auf und ab und auf und ab. Ihre Beine fühlen sich ganz weich an und geben langsam nach, während sie weiter das peinliche Geräusch macht.

Ein beige gekleideter, weißhaariger Mann mit Rollator, der kurz davor war, die Unterführung zu betreten, bleibt stehen und schaut interessiert zu, während sie langsam mit dem Gesicht an der mit Graffiti und Konzertplakaten zugekleisterten Wand herunterrutscht. Er entscheidet sich, umzukehren.

Das ist es. Das Ende. Ich habe einen Herzinfarkt, denkt M. Und denkt an Timo, ihren Kater, der zuhause bei ihrer Mutter lebt. Nur noch einmal die Nase in sein Fell stecken. Tränen füllen ihre Augen. Was für ein Klischee.

Ich bin ein Klischee, denkt M. und eine einzelne Träne fällt auf den Asphaltboden, den irgendjemand vor ihr vollgerotzt hat.

„Ich will nach Hause“, sagt sie laut und schluchzt. Wie erbärmlich. Wo soll dieses Zuhause denn sein? Sicherlich nicht bei K., denn das war das letzte Mal. Sie hätte es besser wissen müssen. Wie kann man so dämlich sein? Zurück zu ihrer Mutter? Ganz bestimmt nicht.

Der Gedanke nirgendwo Zuhause zu sein, nichts zu haben, wohin man gehen kann, lässt erneut Panik in ihr aufsteigen. Da ist es wieder, das peinliche Geräusch. „Mmmmmmmhhhhhhmmmm“, macht M.

„Hey!“, sagt plötzlich jemand von der Seite sehr eindrücklich.

Dier Person mit der eindrücklichen Stimme schiebt eine Plastikflasche, die zur Hälfte mit einem mit einer braun-orangen Flüssigkeit gefüllt ist in M.s Blickfeld.

„Jetzt aber“, die Stimme klingt streng. „Zu viel gehabt?“

M. schüttelt den Kopf. „Hier, trink erstmal nen Schluck“.

Zögerlich greift M. nach der Flasche. Sie hat keine Lust daraus zu trinken, da holt man sich irgendne Krankheit oder so. Die Person mit der Stimme scheint ihren Blick zu bemerken. „Keine Sorge. Hab ich nicht reingerotzt, oder so, wenn du das jetzt denkst. Ich wollt nur helfen. Sah irgendwie so aus, als ob du Hilfe brauchst.“

M. seufzt und nickt zögerlich. „Vielleicht …“. Vorsichtig nimmt sie einen Schluck. Sie hört die andere Person seufzen. „Ist nur Eistee, man. Immer locker bleiben.“ Die Stimme hat recht. Es ist Eistee. Pfirsichgeschmack. M. nimmt einen tiefen Schluck und merkt jetzt, wie durstig sie eigentlich ist. In drei Schlucken ist die Flasche leer.

„Jetzt setz dich erstmal.“ Eine Hand zeigt auf ein Matratzenlager. Es sieht erstaunlich einladend aus. Mehrere Kissen sind da aufgereiht. Ein paar Bücher lehnen an der Wand. Ein umgedrehter Karton steht neben dem Matratzenlager. Darauf eine kleine Vase mit einem Gänseblümchen darin.

„Ja, ein ganz schönes Klischee die Blume, ausgerechnet hier, oder?“, kommt die Stimme M.s Gedanken zuvor. „Aber wenn man schon mal in der Hölle ist, kann man es sich doch wenigstens nett machen, oder etwa nicht? Setz dich jetzt mal, du kippst hier gleich um, ich seh das doch.“

M. lässt sich auf die Matratze fallen. Die Beine zittern. Wenn sie ausatmet, sieht sie ihren Atem in der Luft hängen. Es ist kalt. Sie hat keine Jacke an, fällt ihr auf. Noch immer schafft sie es nicht, der Person mit der eindringlichen Stimme in die Augen zu schauen.

„Kann ich heute bei dir pennen? Nur eine Nacht?“.

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