Bitte beachte die Content Note, die für alle Inhalte auf dem Blog gilt.

Napoléon.

Ein Beitrag, inspiriert von einer Begegnung im Louvre, Paris.

Mein Blick fällt auf ein gigantisches Gemälde. Das muss mindestens zehn Meter lang sein, schätze ich. Wie konnte mir das bis jetzt entgehen? Vermutlich ist es zwischen den ganzen Touristen, dem Menschengewirr und dem Lärm untergegangen. Ich schlängele mich durch eine Seniorenreisegruppe und werfe einen Blick auf die dezente Hinweistafel, die unten links neben dem Gemälde angebracht wurde. „Sacre de l’empereur Napoléon Ier et couronnement de l’impératrice Joséphine dans la cathédrale Notre-Dame de Paris, le 2 décembre 1804″, steht da – ein großer Titel für ein großes Gemälde. Ich trete einen Schritt zurück und schaue mir das genauer an.

Zu sehen ist, wie Napoléon Joséphine zur Kaiserin krönt. Hinter Napoléon steht unter anderem Papst Pius VII., der mit leicht säuerlichem Gesichtsausdruck eine Segensbewegung andeutet, vermutlich, weil es eigentlich sein Job wäre, die Kaiserin zu krönen. Auch Mitglieder von Napoléons Familie, aber auch von Joséphines sowie diverse weitere Adelsmitglieder, Kleriker und andere Politiker sind zu sehen.

Ich sage unwillkürlich „wow“ und denke darüber nach, dass man dieses Gemälde als monumental bezeichnen kann. Aufgrund seiner Dimensionen erlaubt es das Werk, die Gesichter aller dargestellten Personen genau zu erkennen. Wie viele Geschichten hier auf einmal erzählt werden.

Ich wittere die Chance, einen Sitzplatz auf einer der Bänke vor dem Werk zu ergattern und schlängele mich erneut durch Menschen hindurch. Bevor ich Platz nehme, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie eine schwarzgekleidete Person ebenfalls einen Platz am anderen Ende der Bank findet. Mein Blick bleibt kurz an der Person hängen, weil sie außer mir die einzige zu sein scheint, die allein hier ist. Ich mustere sie kurz. Wie ich trägt sie Noise-Cancelling-Kopfhörer – eine gute Idee, um das raumfüllende Stimmengewirr auszublenden – und, anders als ich, in der Hand ein abgegriffenes Notizbuch mit schwarzem Ledereinband.

Kurz schaut sie zu mir herüber und zieht für eine Sekunde die Mundwinkel nach oben zu einem angedeuteten Lächeln, bevor sie mir zunickt. Kurz denke ich darüber nach, dass ich zu der Person rübergehen und ein Gespräch über das Werk vor uns anfangen könnte, entscheide mich aber dagegen, weil ich hier bin, um Kunst anzuschauen, nicht um Gespräche mit, zugegebenermaßen interessanten, Menschen anzufangen. Möglicherweise denkt die Person das Gleiche, denn sie wendet ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kunstwerk zu und beginnt, es mit eindringlichem Blick zu betrachten.

Ich stelle mir vor, wie die Krönungszeremonie geplant wurde – was für ein Aufwand es gewesen sein muss, eine Veranstaltung in dieser Größenordnung mit anspruchsvollen adeligen Gästen zu planen. Wie viel es gekostet haben muss, sämtliche Mitglieder der kaiserlichen Familie mit für eine Krönungszeremonie geeigneten Roben auszustatten. Wie aufwendig es gewesen sein muss, aus allen Teilen des Landes und dem Ausland, zum Beispiel aus Korsika, nach Paris zu reisen – in Zeiten vor Privatjets, Helikoptern oder ICEs. Ob sich irgendein Adelsmitglied bei den anschließenden Feierlichkeiten Syphilis eingefangen hat und der Krankheit einige Wochen später zum Opfer gefallen ist. Ich frage mich auch, ob Joséphine der Typ Frau war, der diese Aufmerksamkeit während der Krönungszeremonie eigentlich zu viel war, oder ob sie es genossen hat, im Mittelpunkt stehen. Jäh werde ich aus meinen Gedanken gerissen, weil ein Pärchen sich zischend neben mir streitet.

„Ich will einfach nur nach Hause“, sagt sie in weinerlichem Ton. Er antwortet nach einer Pause und mit einem tiefen Seufzen: „Ich wollte heute überhaupt nicht hierher fahren. Das war deine Idee.“ Sie entgegnet: „Nie willst du irgendwas mit mir machen. Also nichts, was irgendwie kulturell ist! Immer nur das Gleiche“, was er mit einem sehr genervt klingenden: „Weißt du was, wir gehen einfach. Ich habe heute keine Lust darauf. Absolut gar keine. Komm!“, quittiert. Schwungvoll steht er auf und läuft mit wutrotem Kopf an mir vorbei zurück Richtung Ausgang, sie hinterher mit gesenktem Haupt.

„Was für ein schöner Ausflug“, denke ich und grinse kurz, weil ich mich freue, dass ich alleine hier bin. Doch gleichzeitig nehme ich wahr, dass die schwarzgekleidete Person sich etwas nach vorne gebeugt hat und meinen Blick sucht. Als unsere Blicke sich treffen, müssen wir beide einen Moment lang lächeln. Fast zeitgleich rutschen wir auf der Bank näher aneinander heran, um den nun freigewordenen Platz, den das Streit-Pärchen hinterlassen hat, aufzufüllen.

Schweigend und Kopfhörer-tragend sitzen wir nebeneinander, den Blick auf das monumentale Meisterwerk vor uns gerichtet, während um uns herum Familien, Reisegruppen, verwirrt aussehende Senioren, schreiende Kinder, Schulklassen mit gestresst aussehenden Lehrern, Pärchen, die nur schnell die Mona Lisa sehen wollen und gleich schon eine Reservierung im Restaurant haben, durcheinanderrennen. Alle auf dem Weg irgendwohin oder den Blick auf ihre Smartphones gerichtet. Scheinbar kaum jemand hat hier die Zeit und Muße, die Kunstwerke wirklich wertzuschätzen.

Ich seufze und zwinge mich dazu, das Durcheinander auszublenden. Vielleicht habe ich nur einmal im Leben die Chance, dieses historische Gemälde mit den monumentalen Dimensionen in Ruhe anzuschauen und die muss ich nutzen, weil ich weiß, dass ich mich sonst ärgern werde, wenn ich es nicht tue.

Wo war ich?

Ich frage mich, ob es Napoléons Brüdern gefallen hat, dass ihr Bruder Kaiser wurde, oder ob es Neid unter den Geschwistern gab. Und ob Joséphine zu diesem Zeitpunkt schon geahnt hat, dass sie unfruchtbar sein könnte und dass das irgendwann einmal, in einer Zukunft, die für sie zu diesem Zeitpunkt noch grau war, der Grund sein wird, dass Napoléon vor versammelter Adelsmannschaft ankündigen wird, dass er sich von ihr scheiden lässt. Vielleicht hat sie zum Zeitpunkt der Krönung noch geglaubt, dass alles gut werden wird, mit diesem Mann, und dass sie ihn bestimmt lieben können wird, vielleicht, irgendwann.

Ich nehme wahr, wie die schwarzgekleidete Person neben mir anfängt, etwas in ihr Notizbuch zu schreiben. Ist sie vielleicht Autor*in? Äußerst interessant.

Wir sitzen jetzt so nah nebeneinander, dass sich unsere Oberschenkel berühren. Ich schlucke, den Blick weiter geradeaus gerichtet. Meine Uhr vibriert an meinem Handgelenk, um mir zu sagen, dass sich mein Puls erhöht. „Okay, ich habs verstanden: Ich finde die Person neben mir wirklich interessant“, denke ich und wünsche mir, dass ich cooler wäre und nicht immer sofort die Fassung verlieren würde, wenn ich einen Menschen interessant finde. „Warum bin ich immer so?!“, frage ich mich und spüre, dass ich erröte. Meine Handflächen werden feucht. Echt jetzt?

Ich rolle innerlich mit den Augen aufgrund meiner Anti-Coolness. Alles was es braucht, ist also eine schwarzgekleidete Person mit schwarzen Locken und vollen Lippen und hellblauen Augen und dichten schwarzen Wimpern und Noise-Cancelling-Kopfhörern, die in einem Museum Kunst studiert, und schon verwandele ich mich in ein hirnloses Etwas? Ich bin echt nicht so komplex, wie ich denke. Im Gegenteil: Ich bin simpel. Und oberflächlich. Und ich kann nichts dagegen tun, dass ich so simpel und oberflächlich bin, außer es wahrzunehmen – das ist das Schlimmste an der ganzen Sache.

Ich spüre ihr Bein, das sich jetzt ganz eindeutig gegen meins presst und muss unweigerlich grinsen. Scheiß drauf. Ich könnte ihre Hand nehmen. Ich könnte sie durch die Menschenmassen hindurch in eine Ecke des Museums ziehen, in die niemand kommt. Vielleicht steigen wir einfach über ein Absperrband und verschwinden in einem leeren Gang und ich presse sie gegen eine Wand und sie presst erst sanft ihre Lippen auf meine, ganz vorsichtig, und schiebt dann ihre Zunge in meinen Mund. Ich stelle mir vor, wie sie schmeckt. Und wie sich ihre Haut auf meiner anfühlt. Ich stelle mir vor, dass ich ihren Atem auf meiner Haut spüre und dass sie mir ins Ohr flüstert, dass sie mich happy machen will, jetzt sofort. Hat sie Bartstoppeln, die mich kitzeln oder ist ihre Haut ganz glatt? Wie fühlen sich ihre Oberarme an, wenn ich meine Hände über ihre nackte Haut fahren lasse?

Die Person schreibt jetzt immer schneller Sätze in ihr Notizbuch, das sie auf den Knien trägt. Es ist in exakt diesem Moment, dass mir auffällt, dass eine der Prinzessinnen, die hinter Joséphine steht, ihren Blick nicht mehr auf die Kaiserin richtet, sondern plötzlich in meine Richtung schaut.

Scharf atme ich ein, während sie einen Schritt zur Seite tritt. Während ich, vollkommen gelähmt und wie in die Bank gepresst, dasitze und mir denke, dass das unmöglich sein kann. Nicht fassend, was da gerade passiert, spüre ich, wie die Person neben mir ihre linke Hand mit der Handfläche nach oben auf mein rechtes Knie legt.

Ich bin zu erschüttert von dem, was ich wahrnehme, und nehme wie hypnotisiert die mir dargebotene Hand. Kaum spüre ich, dass mein Körper sich gegen meinen Willen erhebt und von der schwarzgekleideten Person neben mir geleitet wird. Gemeinsam laufen wir auf das Bild zu – und betreten die Leinwand.

Dieser beitrag Gefällt dir?

Dann unterstütze Gedankenflux!

From my little alien heart directly to you: Unterstütze diesen Blog, wenn du in Zukunft noch mehr Beiträge wie diesen lesen willst – mit einer Ko-fi-Spende! Ich freue mich über jeden Betrag sehr, auch über wenige Euro. Vielen Dank 👽