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Heaven.

The only reason those things happened to you is that you were around when someone was looking for someone to punch.

Mieko Kawakami, Heaven

Heaven von Mieko Kawakami wurde ursprünglich 2009 in Japan veröffentlicht. Seit 2021 ist das Buch auf Englisch und seit 2022 auf Deutsch erhältlich. Heaven hat viel Aufmerksamkeit bekommen und wurde unter anderem im Deutschlandfunk Kultur und in der Frankfurter Rundschau besprochen. Das kann auch am Erfolg von Kawakamis zweitem Roman Brüste und Eier von 2020 liegen, der zum Beispiel vom TIME Magazin zu einem der zehn besten Bücher des Jahres 2020 gewählt wurde. Heaven hat seit der Veröffentlichung viele Preise gewonnen und wurde auch für den renommierten International Booker Prize nominiert.

Heaven hat mich besonders inspiriert (im Sinne von: Es hat mich sehr nachdenklich gemacht) und die Handlung hat sich eingeprägt. Dass ich mich so gut an die Handlung erinnern kann, kann daran liegen, dass es das letzte Buch war, das ich 2022 gelesen habe und es damit noch nicht wahnsinnig lange her ist, dass ich es beendet habe. Ich denke aber, dass es einen anderen Grund gibt, warum ich immer noch viel über das Buch nachdenke. Dazu aber unten mehr.

In Heaven besuchen zwei 14-jährige Teenager eine Schule in Japan. Auch wenn man das aufgrund des Alters der Protagonist*innen und des Settings vermuten könnte, ist Heaven trotzdem kein Coming-of-Age-Roman. Erzählt wird die Geschichte eines namenlosen Ich-Erzählers und seiner Klassenkameradin Kojima. Er hat eine Amblyopie, umgangssprachlich: ein träges Auge. Kojima stammt augenscheinlich aus einer armen Familie und kommt mit einer ungebügelten und dreckigen Uniform zur Schule. Beide sind Außenseiter und werden auf grausame Art von ihren Mitschüler*innen gemobbt.

Die Bandbreite reicht von psychischen Erniedrigungen über schwerste körperliche Misshandlungen bis hin zu (versuchtem) sexuellen Missbrauch. Die Kommunikation zwischen den Protagonist*innen läuft nur geheim ab, zum Beispiel, indem sie einander heimlich kleine Botschaften zustecken. Der Grund dafür: Der Ich-Erzähler erlebt mit, dass Kojima misshandelt wird und Kojima sieht, dass dem Ich-Erzähler das gleiche passiert. Obwohl das im Buch nicht klar gesagt wird, befürchten beide, dass das Mobbing schlimmer werden wird, wenn die Mitschüler*innen merken, dass sie befreundet sind. Es ist sehr beklemmend und aufwühlend zu lesen, wie eine Person tatenlos dabei zusieht, wie die andere misshandelt wird.

Das Mobbing wird detailliert beschrieben. Ich musste das Buch an diesen Stellen immer wieder zur Seite legen und durchatmen. Dass diese Schilderungen so schwer zu verdauen sind, liegt auch daran, dass der Schreibstil der Autorin so unmittelbar ist. Sie schildert die Misshandlungen im Präsens und beschreibt körperliche Reaktionen detailreich. So lässt Kawakami ein sehr deutliches Bild von dem, was passiert, aber auch von dem, was nur mitschwingt, vor dem geistigen Auge entstehen. Was mitschwingt, ist die ständig lauernde Bedrohung und ein generelles Gefühl von Unsicherheit und Angst, das sich auf mich übertragen hat. Als Leser*in habe ich mich ständig gefragt: Was kommt als nächstes? Und zwar nicht im Sinne einer voyeuristischen Vorfreude, sondern im Sinne von: Wann hört das endlich auf?

Ebenfalls sehr schwer mitzuverfolgen: Beide lassen die Gewalt über sich ergehen, ohne sich zu wehren. Beim Lesen kam mir immer wieder der Gedanke „bitte wehr dich doch!“. Aber das passiert nicht. Beide ertragen „ihr Schicksal“, wie es Kojima nennt. Denn ihrer Ansicht nach ist das Ertragen ihre Art, der Welt zu begegnen. Laut Kojima sind sowohl der Ich-Erzähler als auch sie selbst Menschen, die die Grausamkeiten anderer ertragen. Und zwar nicht, weil sie diesen Grausamkeiten ausgeliefert sind, sondern weil es ihr Schicksal sei das zu tun. Das Verhalten ist laut Kojima also nicht Resultat von Machtlosigkeit, sondern ein bewusster Akt. Diese Erklärung ist Kojimas Versuch, einen Sinn in den Grausamkeiten zu finden.

Der Ich-Erzähler hingegen ist davon überzeugt, dass seine Amblyopie der Grund für das Mobbing ist. Als er einen seiner Peiniger konfrontiert, stellt sich das aber als Trugschluss heraus. Erklärt werden die Handlungen damit, dass es zwei Arten von Menschen gäbe – die einen, die ihrem natürlichen Instinkt, andere zu quälen, nachgeben und die anderen, die das eben nicht tun. Es läge niemals an einer Behinderung, an einer Andersartigkeit, und auch nicht an Armut, wenn andere gequält werden. Sondern nur an eigenen sadistischen oder masochistischen Tendenzen. Am eigenen Wesen. Es stünde dem Ich-Erzähler frei, zu versuchen, seine Peiniger zu töten. Aber alle wüssten, dass er das nicht tun würde, weil er nicht „so ein Mensch“ sei. Der Ich-Erzähler sieht das genauso.

Ich erinnere mich daran, das Buch wütend in eine Ecke geschmissen zu haben, als ich das gelesen habe. Als Mensch, der versucht, die Handlungen anderer nachzuvollziehen, ist es die absolute Sinnlosigkeit, diese vorgeschobene, pseudo-philosophische Begründung des grausamen Verhaltens und der Mangel an Mitgefühl der Peiniger*innen, die zugeben, dass sie niemals zulassen würden, dass „so etwas“ ihren eigenen Familienmitgliedern passiert, die mich abstoßen. Ich versuche gedanklich, eine valide Begründung dafür zu finden, warum die Protagonist*innen und vor allem die Peiniger*innen sich verhalten, wie sie es tun, und komme zu dem Schluss: Es gibt keine. Die Tatsache, dass es keinen anderen Grund gibt für dieses Verhalten, als zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, ist für mich schwer zu ertragen. Der namensgebende „Himmel“, also der Gegenentwurf zur Hölle, in der Kojima und der Ich-Erzähler leben, ist laut Kojima übrigens die Kunst.

Ein sehr aufwühlendes, philosophisches, detailreiches Buch darüber, was Menschen einander antun und wie sie versuchen, Sinn in ihren eigenen und den Handlungen anderer zu finden.

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