Illustration: Josefina Vidal Díaz, IG: @art_workshops_by_josefina
Illustration: Josefina Vidal Díaz, IG: @art_workshops_by_josefina
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Geheime Welt.

Dieser Beitrag ist inspiriert von der Ausstellung "Martin Wong – Malicious Mischief" im KW Institute for Contemporary Art. Die Ausstellung konnte bis zum 14. Mai 2023 im KW Berlin besucht werden.

Folg mir, die Treppe rauf, durch den lagen Flur mit der flackernden Neonröhre. Ignorier den Müll einfach, den manche Leute im Flur abladen, das machen die Leute hier so in der Stadt. Ja, es riecht nach Pisse, ich riech’s auch. Ganz am Ende des Ganges, scharf links um die Ecke, vor der Tür, auf der die Zahl 389 steht. Das ist das Apartment, in dem Frau E. noch bis vor ein paar Wochen gewohnt hat, Gott hab sie selig. Was ich sagen will: Wenn du vor der 389 stehst, bist du zu weit gegangen. Du musst ganz aufmerksam sein, sonst findest du nicht, was ich dir zeigen will. Verstanden? Du musst wirklich ganz genau hinschauen, wenn du es finden willst. Schau dir die Wand vor der Tür von Frau E., möge ihre Seele Frieden finden, mal genauer an. Fällt dir was auf? „Was soll an der blöden Wand schon so besonders sein“, wirst du dir denken.

Nun, mein Freund – lass mich dir ein Geheimnis verraten. Fass mal den Backstein an. Fühlt sich erstmal an wie ein ganz normaler Backstein, oder? Rau, uneben. Aber hier, unter dem 17. Stein von links in der sechsten Reihe von unten (merk dir die Kombination 389-17-6!), an der unteren Kante des Steins. Du musst deinen Finger in die Aushöhlung schieben. Und in der Aushöhlung, da ist etwas. Spürst du das?

Ein winzig kleiner Schalter. Ein Kippschalter. Keine Sorge, er ist aus Metall – so schnell bricht er nicht ab.

Nun. Du fragst dich jetzt bestimmt, was passiert, wenn du den Schalter umlegst. Was sich hinter der Wand verbirgt. Ich wette, du kannst es schon gar nicht mehr abwarten. Ich seh ganz genau, wie du mich erwartungsvoll anstarrst. Du willst wissen, was das große Geheimnis ist.

Komm näher und ich verrate es dir.

Nun gut. Hinter dieser Mauer verbirgt sich ein Palast.

Schau nicht so blöd und hör mir zu. Ich will es dir erklären. Oder es wenigstens versuchen.

Hinter dieser Mauer liegt ein Heiligtum. Ein Refugium. Eine geheime Welt für alle, denen etwas ganz deutlich gezeigt und gesagt wird, immer und immer und immer wieder, damit wir es niemals, nicht einen Tag lang, nicht eine Stunde, eine Minute, eine Sekunde lang vergessen. Für diese Menschen ist dieser Ort.

Denn sie haben uns an den Schultern gepackt, haben uns geschüttelt und sind so nah an uns herangetreten, dass wir ihren fauligen Atem riechen konnten, und sie haben uns ins Gesicht geschrien, dass wir es niemals vergessen dürfen. Und wenn wir kurz davor waren, es zu vergessen, haben sie uns wieder daran erinnert. Dann haben sie uns erst mit vollem Schwung mit der Hand ins Gesicht geschlagen, während ihre Gesichter zu hässlichen Fratzen verzerrt waren und uns dann lachend nach hinten gestoßen, sodass wir mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufgeschlagen sind und es einen Moment lang dunkel wurde. Wenn wir auf dem Boden gelegen haben, haben sie uns in die Rippen getreten, bis Sterne vor unseren Augen getanzt haben und während wir versuchten, unsere Gesichter mit den Händen zu schützen, haben sie uns immer wieder angeschrien, dass wir wohl etwas vergessen haben und wer wir denn denken, wer wir sind. Und wenn sie genug hatten, haben sie uns die Treppe hochgeprügelt, während sie lachten und gleichzeitig geschrien haben, dass wir es niemals vergessen dürfen.

Was genau es ist, das wir ihrer Ansicht nach nicht vergessen dürfen?

[Flüstert etwas in dein Ohr.]

Aber weißt du was? All das ist ganz egal. Denn irgendwann kam der Tag, den wir niemals vergessen werden. Das war der Tag, an dem wir etwas Wichtiges verstanden haben. Der Tag, an dem wir einen Grundstein gelegt haben.

Uns wurde klar: Wir können eine eigene Welt erschaffen.

Und wenn sie auch nur einen Fuß in sie setzen wollen, oder sie gar zerstören wollen, lachen wir sie nur aus. Denn wir haben am gleichen Tag auch verstanden, dass sie unsere selbst erschaffene Welt weder zerstören noch betreten können. Dafür fehlt ihnen nämlich etwas ganz Entscheidendes. Und weil ihnen das fehlt, starren sie nur von außen auf eine Wand aus Stein und stehen hier im kalten, zugemüllten Flur in dem es nach Pisse stinkt und schauen blöd. Hier, vor Apartment 389, fragen sie sich, wie man jemals in die geheime Welt gelangen kann, die wir selbst geschaffen haben, während wir drinnen sitzen und lachen.

Verstehst du? Diese geheime Welt ist so heilig, so durch und durch unantastbar, dass sie ganz und gar unzerstörbar ist. Sell sie dir vor wie aus dem stärksten, reinsten und festestem Stahl gebaut. Das ist es, was wir verstanden haben. Am Tag als wir anfingen, diese geheime Welt zu erschaffen. Dieser Gedanke ist das Fundament des Heiligtums. Und dieser Gedanke hält alles wie der festeste Beton zusammen, auch uns, die wir in dieser Welt leben.

Versteh mich nicht falsch: Natürlich könnten sie, wenn sie lange genug suchen würden, den Zugang sehen. Sie könnten manchmal, ganz selten, einen Hauch, von dem, was sich im Inneren verbirgt, spüren. Aber selbstverständlich könnten sie die Dimensionen des Raumes, das, was er bedeutet, niemals begreifen. Sie könnten Ansätze verstehen, wenn sie es wirklich, wirklich, wirklich versuchen würden. Aber Tatsache ist doch: Sie versuchen es nicht. Nicht wirklich. Deshalb können sie niemals hindurchgehen, durch die Tür zu dieser geheimen Welt. Und unsere Welt erst recht nicht zerstören. Wenn sie versuchen, sie zu zerstören, lachen wir nur, bis uns die Luft wegbleibt und dann singen wir und tanzen uns in Ektase.

Dass du eingeladen bist in das verborgene Reich, ist Beweis genug dafür, dass du dich als würdig erwiesen hast. Das Heiligtum steht nämlich nur ganz bestimmten Menschen offen. Und solange du mir nichts anderes beweist und deine Taten – nicht deine Worte, denn Worte sind nichts als Schall und Rauch – nichts anderes vermuten lassen, wirst du ein gern gesehener Gast in dieser geheimen Welt sein.

Doch glaub mir eins, mein Freund: Ich bin der Hüter dieses Raumes. Und ich rieche und spüre es auf Meilen und Meilen, wenn jemand lügt. Und sobald ich Lügen rieche und spüre, werde ich dich zurück zu ihnen stoßen und dir viel Spaß mit ihnen wünschen und ich werde nicht einen Gedanken mehr an dich verschwenden, während ich in meinem Heiligtum singe und tanze und lache und mich endlos im Kreis um mich selbst drehe. Hast du das verstanden?

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