Bitte beachte die Content Note, die für alle Inhalte auf dem Blog gilt.

Unser Herr.

Vorgegeben: Mein Vater liegt auf der Bettdecke, gegen einen Berg zusammengeknüllter Kissen gelehnt, den Muschelaschenbecher auf der Brust, rauchend, die Bibel durchblätternd, lächelnd aus dem Fenster starrend.

Mein Vater liegt auf der Bettdecke, gegen einen Berg zusammengeknüllter Kissen gelehnt, den Muschelaschenbecher auf der Brust, rauchend, die Bibel durchblätternd, lächelnd aus dem Fenster starrend. „Mein Sohn, wie schön, dass du da bist“, sagt er, ohne mich anzuschauen. „Hast du endlich den Pfad unseres Herrn betreten und bist bereit, die Sünde hinter dir zu lassen?“. Ich schlucke und zögere kurz – dem Alten wird nicht gefallen, was ich ihm jetzt zu sagen habe.

Ich hole tief Luft. Verdammt, denke ich mir, ich habe das so oft geübt – warum fällt mir das so schwer?

„Vater, ich …“, ich zögere als der Alte sich langsam zu mir umdreht und mich mit prüfendem Blick mustert. „Ich …“, setze ich an.

„Spuck’s schon aus, Jonny“, sagt er. Der milde Ausdruck auf seinem Gesicht ist gänzlich verschwunden. Seine Stirn liegt in Falten und der Mund wirkt verkniffen.

„Vater, ich werde nach San Francisco gehen. Mit Marcus.“

Die Augen des Alten verengen sich zu Schlitzen. Sein schlimmster Albtraum wird immer mehr zur Realität. Sein eigener Sohn – einer von diesen.

„Nein“, sagt der Alte knapp, seine Stimme so eisig wie ein tiefgekühlter Truthahn, frisch aus dem Gefrierfach.

„Vater, ich möchte, dass du das verstehst“, höre ich mich sagen, meine Stimme nicht so fest wie sie noch vor 30 Minuten klang als ich diese Rede vor dem Spiegel geübt habe. „Ich und Marcus, wir …“

„Jonathan Bartholemew Jr.“, unterbricht der Alte mich scharf. „Was habe ich dir gesagt, was diese … diese …“, er hat Schwierigkeiten damit, die richtigen Worte zu finden.

Ich seufze tief und überlege kurz, ob ich seinen Satz zuende führen soll, denn ich weiß ganz genau was jetzt kommt, doch er kommt mir zuvor: „Sodomistenscheiße, genau, diese Sodomie, diese Verhöhnung unseres Herren, in sein Angesicht spuckst du ihm damit, Jonathan, das weißt du ganz genau, du weißt es und trotzdem tust du es …“

„Vater, dein Herz“, höre ich mich sagen.

„Sei still“, scharf schneidet er mir das Wort ab. „Weißt du, was ich an dir verabscheue, hä, Jonathan? Du tust einfach was du willst. Du denkst, die Welt dreht sich nur um dich. Dir ist es egal, was die Nachbarn denken. Was Michael und Samuel denken. Und noch schlimmer: Was du Auntie Carol antust. Ich habe noch niemals, in meinen ganzen 87 Lebensjahren, einen so egoistischen Menschen wie dich erlebt. Ich bin sprachlos.“

„Dafür, dass du sprachlos bist, sprichst du ziemlich viel“, rutscht es mir heraus. Der Alte schaut mich mit wutverzerrtem Gesicht an.

„Hör mir jetzt gut zu, Jonathan. Ich erlaube es nicht. Hörst du? Ich verbiete es. Ich bin dein Vater und ich verbiete es.“

Wer denkt er, wer er ist? Was denkt er, dass er über mich, mein Leben, und noch schlimmer, darüber, wen ich liebe, entscheiden kann? Ich spüre, wie meine Hände unweigerlich anfangen zu zittern. Zuerst leicht. Doch während mein Vater sich immer weiter in seine Wut, seinen Hass, seine – ich sage es ungern – Hysterie hineinsteigert, spüre ich, wie er mit jedem seiner Worte eine immer höhere Mauer zwischen uns errichtet. Meine Hände beben. Ich spüre, wie eine Ader an meiner Schläfe anfängt unweigerlich zu zucken.

Ich denke an Marcus, wie warm sich seine Hand auf meiner angefühlt hat als er mir sagte, dass er das perfekte Apartment für uns gefunden hat. Nicht groß, nicht schick, aber genug. Genug für uns zwei, um ein neues Leben zu beginnen. In dieser Stadt von der die Jungs in Danny’s Bar so oft erzählen. Wo es richtige Schwulenbars gibt und wo man keine Angst haben muss, wenn man sich auf der Straße küsst und die Hände hält. „Wir werden frei sein, Jonny“, hat Marcus gesagt und ich habe es für einen kurzen Moment vor meinem geistigen Auge gesehen. Eine Epiphanie. Ein Traum von einem neuen Leben in Freiheit, in dem wir uns nicht mehr verstecken müssen. Ich habe es Marcus versprochen, dass ich es heute zu Ende bringe. Koste es, was es wolle.

„Du bist wie deine Mutter“, höre ich den Alten in verächtlichem Ton sagen.

Es reicht.

„Was denkst du, was das hier ist?“, frage ich, meine Stimme nun kühl wie ein Morgen im Februar, draußen in den Wäldern. „Das ist kein Bittgesuch, Vater. Ich werde gehen. Du wirst mich nicht abhalten.“

„Ich vielleicht nicht“, sagt der Alte, während sich ein dämonisches Grinsen auf seinem Gesicht breit macht. „Nein, Jonny, ich bin alt. Mein Krebs breitet sich immer weiter aus. Aber er hier“, er deutet mit dem Zeigefinger nach oben, auf die vom Zigarettenrauch vergilbte Decke über dem Krankenbett, „er hier sieht und hört alles. Er kann sogar deine Gedanken hören. Er sieht deine Träume. Du bist niemals allein.“

Ich seufze. „Gut. Wenn es so sein soll. Auf Wiedersehen, Vater“, mit diesen Worten wende ich dem Alten den Rücken zu.

Doch gerade, als ich die ersten Schritte zurück zur Tür des Krankenzimmers laufe, höre ich etwas. Ein ganz leises Geräusch und mich verwundert, dass ich es in meiner eigenen Wut, die mich nun ebenfalls vollkommen im Griff hat, überhaupt wahrnehme. Die Hirschgeweihe an den Wänden – vibriere sie? Ist das ein Erdbeben? Das kann nicht sein, doch die Erschütterung wird stärker. Die Köpfe scheinen nun an den Wänden auf und ab zu springen.

„Was zur Hö-“, ich kann den Satz nicht beenden, denn in diesem Moment geht ein Ruck durch die Decke des Zimmers. Die Erschütterung ist so groß, dass eines der Geweihe von der Wand fällt. Staub rieselt wie feiner Schnee auf mich herab. Ruckartig schaue ich nach oben. Da ist ein Riss in der Decke. Der Riss war vorher nicht da.

„Ja! Das ist es!“, höre ich den Alten rufen. Ich drehe mich nun wieder zu ihm um und sehe, dass er sich im Krankenbett halb aufgerichtet hat, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht zu einer Fratze verzerrt. „Das ist unser Herr, Jonathan. Er ist gekommen, um dich zurück auf den rechten Pfad zu bringen, Jonathan. Wenn ich es nicht kann, wird er dich eines Besseren belehren.“

„Das ist … das ist … unmöglich“, flüstere ich, doch der Alte korrigiert mich. „Nein, Jonathan, das ist die Macht Gottes, die du spürst. Nimm sie an! Lass es zu! Dir wird nichts passieren, solange du dein Herz öffnest!“

Der Riss an der Decke wird immer größer. Mittlerweile vibrieren auch das Krankenbett, der Stuhl am Fenster und die schwere Holzkommode in der Ecke neben der Tür. „Das ist unmöglich“, wiederhole ich, während mein Vater lacht wie eine Ziege.

„Nein, Jonathan, es ist Wunder! Ein Wunder! Verstehst du nicht?“

Staub rieselt in meine Augen, füllt meine Nase und meinen Mund. Ein Tierkopf nach dem anderen fällt von der Wand. Ich stütze mich auf die Kommode, um das Gleichgewicht zu halten. Ich kann kaum etwas erkennen. Das Klirren der Fensterscheiben, das Springen des Bettes auf dem Holzboden, das Kruzifix über dem Bett, das mit einem Scheppern herunterfällt und meinen Vater fast erschlägt, all das vermischt sich zu einem fast ohrenbetäubenden Crescendo.

Die Decke reißt immer weiter auf und aus dem Riss schaut auf einmal eine Hand hervor. Mit Entsetzen sehe ich, wie sie sich immer weiter herausarbeitet, herauswindet, herauswühlt aus dem scharfkantigen Riss. Fast sieht sie menschlich aus, aber eben nur fast. Ich erkenne durch die tanzenden Partikel, die einen dichten Nebel bilden, lange, spitz zulaufende, gelbe Fingernägel, scharf wie Rasiermesser. „Wer ist das?“, schreie ich verzweifelt.

„Das, mein Sohn, ist unser Herr. Der, dem wir alle dienen. Michael. Samuel. Auntie Carol. Ich. Und bald wirst auch du seine unendliche Gnade empfangen. Er wird dein sündiges Fleisch reinigen, sein Licht wird dich befreien. Geh in die Knie, mein Sohn, nimm seine Gnade in dir auf!“, kreischt mein Vater mit gierigem Blick, während eine zweite Hand sich immer weiter durch den Spalt arbeitet. Ich erkenne nun zwei von schwarzen Adern durchzogene Arme und zum ersten Mal höre ich ein Röcheln, das von oben zu kommen scheint.

„Nein“, schreie ich, „das ist ein Albtraum“.

„Herr, oh Herr, mein Sohn – er hat gesündigt. Aber er ist bereit, Buße zu tun, sich dir hinzugeben, voll und ganz. So wie ich es getan habe und seitdem nach deinen Regeln lebe.“, ruft mein Vater.

Die Arme reißen nun den Riss in der Decke endgültig auf. Ich will wegschauen, aber ich kann nicht. Eine unsichtbare Macht hält meinen Blick gefangen. Ich bin unfähig mich abzuwenden. Ist das wirklich Gott? So habe ich ihn mir nicht vorgestellt.

„Das … das … ist unmöglich“, flüstere ich, während sich ein Totenkopf durch den klaffenden Spalt in der Decke schiebt. Zumindest denke ich im ersten Moment, dass es sich bei dem, was ich sehe, um einen Totenkopf handelt. Wieso hat dieses, ich weiß nicht wie ich es anders nennen soll, Ding Hörner?

Dieser beitrag Gefällt dir?

Dann unterstütze Gedankenflux!

From my little alien heart directly to you: Unterstütze diesen Blog, wenn du in Zukunft noch mehr Beiträge wie diesen lesen willst – mit einer Ko-fi-Spende! Ich freue mich über jeden Betrag sehr, auch über wenige Euro. Vielen Dank 👽